Welternährungstag am 16. Oktober

Magersucht – die tödlichste psychische Krankheit

Samstag, 16. Oktober 2021 | 08:17 Uhr

Bozen – „Am Welternährungstag dürfen wir gerade Menschen nicht vergessen, die an Magersucht leiden. Um diese Krankheit kümmert sich niemand gerne, auch die meisten Ärzte nicht“, erklärt Psychiaterin Dr. Margit Coenen, Expertin für schwere Fälle von Essstörungen in Südtirol. Die Fachärztin für Psychiatrie leitete viele Jahre lang die Abteilung für Psychiatrie in Bozen, ist jetzt am Zentrum psychischer Gesundheit Brixen tätig und lehrt zur Zeit die Psychiatrie Brixen den Umgang mit Menschen, die, wie sie sagt, „an der tödlichsten psychischen Krankheit leiden. 15 Prozent der schwer Essgestörten sterben nämlich daran“.

Netzwerk gegen Essstörungen in Südtirol

Bei einem Body-Mass-Index (Maß des Gewichts im Verhältnis zur Körpergröße, normal sind Werte von 18,5 bis 25, darüber liegt Übergewicht, darunter spricht man von Anorexie oder Magersucht) von 16,5 kippt praktisch ein Schalter im Gehirn um, Betroffene entwickeln eine dauerhaft gestörte Wahrnehmung ihres Körpers und geraten damit fast unmerklich in eine Spirale zunehmenden Leides, das sich rasch auf die gesamte Familie ausweitet. Vor allem wird die Willenskraft der Betroffenen auf die Kontrolle des Essens fokussiert. Sie sind häufig anfangs stolz darauf, so diszipliniert fasten zu können und dünner, vermeintlich auch schöner, zu werden als andere. Sie kümmern sich eingehend um Kalorien, rechnen im Kopf aus, wie viel Energie sie sich zuführen, kochen häufig auch gut und gerne und halten andere an, viel zu essen. Sie selber aber hungern zähe, obwohl sie pausenlos an Essen denken.

Das menschliche Gehirn macht nur zwei bis drei Prozent der Körpermasse aus, benötigt aber im Ruhezustand rund 25 Prozent der Energie, die im Körper freigesetzt wird. Wir essen deshalb nicht so sehr für unsere Muskelkraft und Bewegung, sondern vor allem für unser Gehirn. Dort benötigen 80 bis 100 Milliarden Gehirnzellen pausenlos Traubenzucker und Sauerstoff, um zureichend arbeiten zu können.

Im Stress verbraucht das Gehirn bis zu 35 Prozent der gesamten Energie, und dauerndes Hungern ist massiver Stress. Gleichzeitig wird aber durch das Fasten deutlich weniger Energie zugeführt, sodass das Gehirn in ein konstantes Kraftdefizit gerät, das wieder den Stress vergrößert. Wenn jemand hungert, ist es anderseits ein genetischer Überlebensvorteil, sich relativ wohl und aktiv dabei zu fühlen. Dann kann man trotz wenig geistiger Kraft gezielt nach Lösungen suchen und diese verwirklichen. Man merkt selbst gewissermaßen über weite Strecken gar nicht, dass das Gehirn nicht mehr zureichend funktioniert. In Hungerzeiten können Menschen mit ganz wenig Energie auskommen und das eingeschränkte Gehirn täuscht ihnen vor, sie seien normalgewichtig und geistig zähe, sodass sie sich darum nicht so sehr kümmern müssen. Bei künstlich herbeigeführtem Hunger kann dieses eigenartige Wohlgefühl zur Falle werden. Es bewirkt, dass Betroffene Angst haben, zuzunehmen, weil das ihre Willensstärke brechen könnte. Ein Wettkampf Wille gegen Körper beginnt, der zu gefährlicher Auszehrung führt. Der Hunger verursacht Schlafmangel und Kältegefühl, die Dauerbeschäftigung mit dem Essen führt zu mangelnden sozialen Kontakten, es treten Muskelschwäche und Gehschwierigkeiten bei starkem Bewegungsdrang auf, ebenso Blähbauch und Herzmuskelschwäche, und die Monatsblutungen fallen aus. Auch wenn die gesamte Familie sich um gemeinsame Mahlzeiten bemüht, gegessen wird dabei von Betroffenen fast gar nicht. Ein endloser Kampf ums Verzehren tritt auf, bei dem die Magersüchtigen ihre ganze Macht zeigen.

Einerseits ist also die Grenze des Body-Mass-Index von 16,5 durch genügende andauernde Ernährung unbedingt zu überschreiten, damit das Gehirn endlich wieder normal zu funktionieren beginnt und den Betroffenen die Schwierigkeit und die Gefahr des Verhungerns erst bewusstwird. Anderseits kann diese nur unter strengster Kontrolle erfolgen, und beim so genannten Unterstützungstisch während der Aufnahmen im Krankenhaus führen Ernährungsberater oder Krankenpflegerinnen die Aufsicht, damit Nahrungsmittel nicht versteckt statt gegessen werden und die Betroffenen gleichzeitig gezielt seelisch unterstützt werden. Erkrankte wenden beim Wiegen alle Tricks an, um Eigengewicht vorzutäuschen. Sie trinken vorher ein bis zwei Liter Wasser oder legen sich Blei oder Steine in die Kleider.

Aber die Gewichtszunahme darf nicht zu abrupt erfolgen, zu rasche Nahrungszufuhr kann sogar tödlich enden. Sie bewirkt Ausschüttung von viel Insulin, das die Zellmembran durchlässig macht für Phosphat. Dieses strömt in die Zellen, und im Blut kann sich ein manchmal schwerer Phosphatmangel einstellen, der Symptome bis hin zum Koma verursachen kann. Anfangs sollen deshalb nur 5 bis 10 Kilokalorien pro kg Körpergewicht und Tag an Nahrung verabreicht werden. Gegen die Panik, die auftritt, wenn Betroffene merken, dass sie an Gewicht zunehmen, müssen öfter Beruhigungsmittel verabreicht werden.

All diese Maßnahmen sind manchmal auch gegen den Widerstand und den Willen der Betroffenen notwendig. Jeder Body Mass-Index unter 14 ist ein Grund, die oder den Betroffenen im Krankenhaus aufzunehmen und sie kontrolliert oder notfalls sogar zwangsweise zu ernähren. Betreuung und Behandlung von schwer Essgestörten ist eine der aufopferungsvollsten und schwierigsten Aufgaben der Psychiatrie, und muss in einer eigenen, hoch spezialisierten Abteilung mit genügenden Mitarbeitern erfolgen. Parallel zu den körperlichen und Ernährungsmaßnahmen sollen, sobald das Gehirn der Betroffenen leistungsstark genug ist, Psychotherapie und Familiengespräche stattfinden. Auch Kreativtherapien und (langsame) Bewegung, Aromatherapie und Entspannungsübungen können hilfreich sein. In seltenen Fällen ist Ernährung durch Sonden oder Infusionen notwendig, und auch kurzfristige Überstellungen an die Intensivstation sind bei Lebensgefahr unabkömmlich.

„In Südtirol müssen wir eine entsprechende Einrichtung für volljährige und ältere Jugendliche erst schaffen“, ergänzt Psychiatrieprimar Roger Pycha, Vizeleiter des Netzwerks für die Behandlung von Essstörungen in Südtirol. Die zuständige Arbeitsgruppe des Gesundheitsbetriebes hat 2018 den Standort Brixen empfohlen, seitdem arbeitet der Gesundheitsbetrieb an dem Projekt. Dafür spricht die Nähe zum Kompetenzzentrum für Essstörungen im Kindesalter an der Pädiatrie Brixen und die Anbindung an Therapieangebote im Psychosomatik-Zentrum Bad Bachgart.

„Freilich benötigen wir zusätzlich ein Tageszentrum mit einer spezialisierten Wohngemeinschaft in Bozen, an der Betroffene aus dem ganzen Land betreut werden können“ benennt Pädiatrieprimar Markus Markart, der Leiter des Netzwerks, den nächsten Schritt: „Dieses Projekt ist sehr weit fortgeschritten, wir rechnen noch heuer mit der Eröffnung des Zentrums“.

Ein vorrangiges Anliegen ist die Aufklärung der Südtiroler Öffentlichkeit, die meist von Psychologin Raffaella Vanzetta von INFES geleistet wird. Genauso wichtig ist aber die exzellente Abstimmung der Fachleute in ihren verschiedenen Rollen aufeinander. Auch neueste wissenschaftliche Erkenntnisse müssen praktisch umgesetzt werden. Diesen verschiedenen Anliegen hat sich die Tagung „Essstörungen -Stiefkinder der Behandlung?“ verschrieben, die am 24. November 2021 um 8.30 Uhr an der Brixner Cusanus-Akademie in Präsenz mit Green-Pass eröffnet wird. Durch Information, Vorbeugung, präzise Diagnose und gezielte Behandlung soll in Zukunft viel Leid verhindert, viel gutes Körpergefühl vermittelt werden.

Von: mk

Bezirk: Bozen, Eisacktal