Von: mk
Bozen – Wie gelingt Familie im Zeitalter der Dauervernetzung? Dieser Frage widmete sich heute der Aktionstag zur MutterNacht 2025 am Bozner Rathausplatz unter dem Motto „Gefangen im Netz: Familie und digitale Welt“. Musik, Theater, Literatur und Diskussionen zeigten eindrucksvoll, wie vielfältig die Erfahrungen von Familien mit digitalen Medien sind – zwischen Faszination, Überforderung und dem Wunsch nach Nähe. 25 Südtiroler Organisationen, die sich für Familien in unterschiedlichen Lebenslagen einsetzen, haben gemeinsam mit dem Haus der Familie Impulse entwickelt und den Aktionstag durchgeführt. Der heutige Vormittag machte Mut, digitale Herausforderungen gemeinsam und bewusst anzugehen.
Gernot Psenner, Direktor des Hauses der Familie, hob hervor, wie intensiv die Digitalisierung auch die Familienbildung verändert hat: „Im Haus der Familie erleben wir, dass Eltern nach Orientierung suchen.“ Eltern wünschen sich Unterstützung, um im digitalen Alltag sicher und selbstbewusst zu begleiten.
Siegrid Zwerger, Mutter von drei Kindern und Projektverantwortliche der Kampagne MutterNacht im Haus der Familie, brachte die Alltagsperspektive ein: „In unserem Bildungshaus stehen bewusste Familienzeit, lebendige Beziehungen, Naturerlebnisse, Spiel und Abenteuer im Mittelpunkt. Das Smartphone tritt dabei in den Hintergrund.“ Gleichzeitig betonte sie: „Auch in unserer Familie gibt es Reibereien – es braucht Grenzen, Energie und das Dranbleiben. Und wir sollten uns fragen: Was bieten wir unseren Kindern alternativ an?“
Astrid Di Bella, Projektbegleiterin der Sensibilisierungskampagne, moderierte den Tag und betonte: „Digitale Medien sind aus dem Familienleben nicht mehr wegzudenken. Entscheidend ist, wie bewusst wir sie nutzen und begleiten.“ Es gehe nicht um Verbote, sondern um Balance, Vorbildwirkung und die Fähigkeit, Chancen zu erkennen und Herausforderungen mutig anzugehen.
Autorin Diletta La Rosa legte in einem eigens verfassten literarisch-kritischen Beitrag familiäre Spannungen offen: „Ich wollte das Unbehagen spürbar machen, das entsteht, wenn das Smartphone wichtiger wird als das Gespräch.“ In ihrem Text zeigte sie eindrücklich, wie Kinder zunehmend überwacht werden, wie Eltern ihnen kaum mehr Raum lassen – und doch so wenig Echtes bekommen. Sie thematisierte, wie die ständige Online-Präsenz von Erwachsenen die Beziehung zu ihren Kindern untergräbt: Schon kurze Blicke aufs Handy können laut Studien die Interaktion stören, was bei Kindern Frust und Rückzug auslösen kann. La Rosa machte damit sichtbar, wie digitale Ablenkung emotionale Nähe ersetzt und Familienbeziehungen auf eine unsichtbare Probe stellt.
Melanie Kemenater, Sozialpädagogin im Forum Prävention, zeigte auf, welche Chancen bewusste Mediennutzung bietet: „Kinder können über digitale Medien Kreativität entwickeln, Lernprozesse gestalten und soziale Kontakte pflegen.“ Voraussetzung sei, dass sie von Erwachsenen achtsam begleitet werden. Praktische Tipps wie medienfreie Zeiten, klare Regeln und gemeinsame Reflexion können helfen, gesunde Mediengewohnheiten im Familienleben zu verankern.
Das MurX-Theater brachte mit 20 Kindern zwei fantasievolle Kurzstücke auf die Bühne. „Kinder finden oft intuitiv kreative Wege, mit digitalen Themen umzugehen“, sagte die künstlerische Leiterin Doris Warasin.
Musikalisch begleitete Annika Borsetto den Tag mit feinsinnigen Liedern: „Ich hoffe, dass meine Musik kleine Inseln der Ruhe zwischen all den digitalen Impulsen schaffen konnte.“ Ein Kinderprogramm lud zum Mitmachen ein – bewusst abseits von Bildschirmen.
Ein Höhepunkt war die Podiumsdiskussion mit Fachleuten und Betroffenen. Ana Agolli von den Sprachzentren hob hervor: „Digitale Räume müssen auch interkulturell gedacht und gestaltet werden – inklusiv, respektvoll und vielsprachig.“ Gleichzeitig wies sie darauf hin, dass viele Einwandererfamilien weniger über die Auswirkungen häufiger Handynutzung wissen, gleichzeitig aber das Handy intensiv nutzen, um den Kontakt zu ihren Herkunftsfamilien aufrechtzuerhalten.
Elisabeth von Leon, Dozentin für Kinderliteratur, betonte: „Geschichten, ob digital oder analog, können Familien verbinden und Medienkompetenz fördern.“ Kinderbücher entschleunigten, förderten Konzentration und seien eine Einladung zur Interaktion. „Ein Kind, das in seiner Fantasie viel erprobt hat, ist besser gewappnet für die Herausforderungen der digitalen Welt“, so von Leon. Besonders resilienzfördernde und diversitätssensible Literatur helfe Kindern, sich selbst und die Welt besser zu verstehen und kritisches Denken zu entwickeln – eine Schlüsselkompetenz im Umgang mit digitalen Medien.
Hannes Waldner, Game-Entwickler und Wildnispädagoge, brachte eine differenzierte Sichtweise ein: „Angst bringt uns nirgends hin. Es geht darum, sich mit der neuen Realität auseinanderzusetzen. Wir sind nicht gefangen – wir gestalten. Wenn, dann verfangen wir uns selbst.“ Er plädierte dafür, in der Familie eine Gesprächsebene zu schaffen: „Warum spiele ich? Was spiele ich? Redet mit euren Kindern – versucht sie zu verstehen.“
Barbara Prantl, Lehrerin und Influencerin, gewährte Einblicke in ihren Alltag: „Ich bin nicht das beste Vorbild – mein Sohn ist 15, meine Tochter 10. Ich nutze soziale Medien auch beruflich. Es geht um Dosierung und bewusste Entscheidung: Was zeige ich? Was nicht?“ Sie zeigte, wie Rezeptvideos beispielsweise niederschwelligen Zugang zu Wissen schaffen können.
Anton Dissertori, 19-jähriger Jugendlicher aus Jenesien, erzählte eindrücklich von seinen Erfahrungen: „Ich habe mein erstes Handy mit 17 bekommen. Ich fühle mich im Netz wohl. Aber oft merken wir erst nach vielen Stunden, dass wir das Wertvollste verlieren: unsere Zeit. Ich finde mich nicht gefangen im Netz, sondern gefangen in der Sucht.“
Im Anschluss trat Irene Moroder, Poetry Slammerin und Mutter von drei Kindern, mit einem kraftvollen Text auf: „Ich wollte zeigen, wie leicht sich Familien in Erwartungen und Bildschirmen verlieren – und wie viel Kraft in echten Begegnungen steckt.“
Schüler:innen vom Ritten berichtete gemeinsam mit Lehrerin Iris Lang über ihren bewussten Handyverzicht während der Fastenzeit. Mehr als 30 Schüler:innen der Mittelschule Klobenstein verzichten in der Fastenzeit freiwillig auf ihr Handy: Nach fast vier Wochen hat nur ein Schüler aufgegeben. Sie berichteten von besserer Konzentration, mehr Freizeitaktivitäten und gestärktem Selbstbewusstsein.
Maria Lobis las berührende Texte von Südtiroler:innen vor, die im Vorfeld eingereicht worden waren. Die Geschichten zeigten, wie sehr die digitale Welt in unsere intimsten Beziehungen hineinwirkt, berührend und ehrlich.
Zum Abschluss sagte Judith Bertagnolli, Journalistin und Vorstandsmitglied im Haus der Familie: „Digitale Medien sind Teil unserer Welt. Aber wie wir sie nutzen, ist unsere Entscheidung.“ Sie regte an, einen gesellschaftlichen Diskurs über das passende Alter für den ersten Smartphone-Besitz anzustoßen – gemeinsam, verantwortungsvoll und mit Blick auf die Bedürfnisse junger Menschen.
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