Unglück auf anspruchsvoller Eistour

Nach Lawinendrama im Ortlergebiet: Wie zuverlässig sind Prognosen?

Montag, 03. November 2025 | 10:05 Uhr

Von: mk

Sulden – Nach der Lawinentragödie im Ortlergebiet am Samstag, bei der fünf Menschen ums Leben kamen, sind noch immer viele Fragen offen. Das schwere Unglück passierte am Nachmittag unterhalb des Gipfels der 3.545 Meter hohen Vertainspitze. Die Bergsteiger waren auf einer Höhe von rund 3200 Metern unterwegs, als sich die Lawine löste und sie mitriss. Gerade weil laut Warnbericht am Samstag die Lawinengefahr gering war, wundern sich viele darüber, wie es so weit kommen konnte.

Stefan Winter vom Deutschen Alpenverein, der unter anderem für das Krisenmanagement zuständig und das Gebiet gut kennt, nennt zwei mögliche Ursachen. „Also entweder haben die Bergsteiger die Lawine selber ausgelöst, man spricht dann auch von einem Schneebrett, also ein schneegepacktes Brett wie eine große Luftmatratze, das man auslöst und auf der man dann abgleitet. Oder es handelte sich um einen Nassschneerutsch, der auch selber ausgelöst wurde oder von oben kam und die Bergsteiger mitgerissen hat“, erklärte Winter im ZDF-Interview. Um vollständige Gewissheit zu erlangen, müsse man allerdings erst die zwei Überlebenden befragen.

Die Tour, auf der die Bergsteigerinnen und Bergsteiger unterwegs waren, gilt als anspruchsvolle Eistour. Aufgrund ihrer Höhe ist man auf dem Weg zur Vertainspitze gezwungen, im Steileisgelände zu klettern. „Man braucht dazu Steigeisen und sogar zwei Pickel, denn die Steilheit beträgt auf ca. 200 Metern zwischen 50 und 70 Grad. Erst dann legt sich das Gelände zurück und wird wieder flacher“, erklärt Winter.
Um die Strecke zu bewältigen, seien Fitness, Kraft, Ausdauer und Durchhaltevermögen nötig. Für die Passagen, in denen man sich sichert, brauche man außerdem das passende Material und technische Kenntnis. „Man muss auch wissen, wie wende ich das Seil und die Eisschrauben an, wie kann ich vorsteigen und meinen Partner hinterher holen“, betont Winter.

Die zwei Männer im Alter von 50 Jahren, die das Unglück überlebt und Alarm geschlagen, hatten laut Winter „pures Glück“. Wahrscheinlich hätten sie sich nicht in der direkten Falllinie der Lawine aufgehalten. In so einem Gelände sei es nicht möglich, plötzlich so schnell reagieren und 20 oder 30 Meter zur Seite sprinten. Immerhin befindet man sich dort oben in tiefem Schnee und im Eis. Berichten zufolge sollen die Männer lediglich von der Lawine gestreift worden sein.

„Vorhersage gilt immer nur regional“

Vielen brennt nach dem Unglück eine Frage unter den Fingern: Wie zuverlässig sind Lawinenwarnberichte, zumal die Gefahr am Samstag als nicht besonders hoch eingestuft wurde? „Wir sind jetzt gerade an der Schwelle vom Spätzommer, vom Herbst zum Winter. Die ersten Schneefälle gab’s schon im Gebirge, aber eben nicht in großen rauen Mengen. Das Problem war wohl auch hier, dass sehr viel Wind geherrscht hat und Wind ist sprichwörtlich ein Baumeister von Lawinen: Er vertreibt den Schnee und packt ihn zu Schneebrettern zusammen“, erklärt Winter.

Wie der Experte betont, herrschte im Bereich Gefahrenstufe zwei. Das heiße aber nicht, dass gar keine Gefahr vorhanden sei. „Da muss man eben als Bergsteiger eigenverantwortlich vor Ort auch die Signale wahrnehmen, entscheiden, gehe ich jetzt rechts oder links, kann ich geradeaus den Hang weiter“, so Winter.

Bergsteiger können auch selbst Maßnahmen treffen, um die Schneedecke zu entlasten, z.B. indem sie mit großem Abstand voneinander gehen. „Aber das müssen die Bergsteiger vor Ort selber machen, denn die Vorhersage für Lawinengefahr gilt immer nur regional, aber nicht genau für den Meter an dem Berg, wo ich gerade stehe“, warnt Winter.

Prognosen „noch nie so gut wie heute“

Ihm zufolge waren Lawinenwarnberichte, Gefahrenstufen und Vorhersagen, noch nie so gut wie heute – dank neuer technischer Methoden und auch durch die Verbreitung über Social Media und über das Internet. Wichtig sei, dass man den Lawinenbericht auch lesen und interpretieren könne und dann eben genau dort nicht hingehe, wo es gefährlich sei. Man müsse dabei schauen, auf welcher Höhe, auf welcher Himmelsrichtung die Gefahr lauere, und dann möglichst dieses Gebiet eben meiden.

Sobald sich eine Lawine löst, geht alles in Sekundenschnelle. „Man sollte in dem Fall versuchen, die Eispickel oder auch Skistöcke wegzuwerfen, Skier zu lösen und dann an der Oberfläche der Lawine mit zu schwimmen“, sagt Winter. Im steilen Gelände wie auf dem Weg zur Vertainspitze ist das allerdings nicht immer möglich. Personen, die dort unter eine Lawine geraten, können sich auch beim Sturz verletzen und sich Brüche zuziehen. Bevor die Lawine zum Stillstand kommt, gehe es darum zu kämpfen, dass man der Oberfläche bleibt oder es schafft, sich eine Atemhöhle im Schnee zu graben, so Winter.

Gerade beim Saisonwechsel hin zum Winter mit den ersten Schneefällen müssten Bergsteiger gut aufpassen – vor allem auf Gletschern, die noch nicht gut eingeschneit sind. Auch für Wanderer, die auf weniger extremen Routen unterwegs sind, gilt es, Vorsicht walten zu lassen. Der Experte empfiehlt, den Schnee zu umgehen und auf Südrouten zu bleiben. Sollte man doch in den Schnee geraten, sind man vor allem gutes Schuhwerk und auch Stöcke zum Abstützen nötig.

Kritik einheimischer Bergretter

Berichten zufolge sollen die beiden Gruppen bei ihrem Aufstieg in Richtung Vertainspitze gut ausgerüstet gewesen sein. Bergretter, die bei dem Einsatz im Ortlergebiet beteiligt waren, kritisierten außerdem die unangemessen späte Uhrzeit, zu der die Opfer in der Höhe unterwegs waren. Erst kurz vor 16.00 Uhr waren demnach die Einsatzkräfte verständigt worden.

Bezirk: Vinschgau

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