Trug eine fatale Fehleinschätzung zur Katastrophe bei? – VIDEO

Hätte die Flüchtlingstragödie verhindert werden können?

Donnerstag, 02. März 2023 | 07:00 Uhr

Steccato di Cutro – Vier Tage nach der Tragödie, die sich vor einem Strand des beschaulichen Ferienortes Steccato di Cutro südlich der Hafenstadt Crotone in der süditalienischen Region Kalabrien abspielte, werden die Hinweise, dass diese Katastrophe hätte verhindert werden können, immer zahlreicher.

Auffallend ist, dass von der ersten Frontex-Meldung bis zum Untergang des Bootes mit etwa 180 Migranten an Bord sieben Stunden vergingen. Einer ersten Rekonstruktion der Ereignisse zufolge sollen zwei Boote der Finanzwache versucht haben, das Flüchtlingsboot zu erreichen. Dieser Versuch sei aber durch den schweren Seegang verhindert worden. Die Küstenwache hingegen soll erst nach dem Schiffbruch benachrichtigt worden sein. Einige Hinweise deuten darauf hin, dass die schwierige Lage, in der das Boot sich befand, unterschätzt worden sein könnte.

Facebook/Corpo delle Capitanerie di Porto – Guardia Costiera

Die Rekonstruktion der Ereignisse beginnt mit dem Auslaufen des Flüchtlingsboots. Das Boot mit rund 180 Migranten an Bord legte in der Nacht vom 21. auf den 22. Februar von Cesme bei Izmir in der Türkei ab. Etwa drei Tage später, am Samstag, dem 25. Februar gegen 22.00 Uhr, wurde ein Flugzeug der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache Frontex auf das etwa noch 40 Meilen – also rund 64 Kilometer – von der italienischen Küste entfernte Boot aufmerksam. Frontex greift in der Regel nicht in Rettungsaktionen ein, sondern meldet die gesichteten Boote an die zuständigen Behörden.

Der Rekonstruktion der Ereignisse folgend alarmierte Frontex am Samstag gegen 22.00 Uhr mehrere Polizeibehörden, die das internationale Koordinierungszentrum bilden. Zu diesen Behörden gehörte auch die italienische Finanzwache, nicht aber die italienische Küstenwache. Die Küstenwache erhielt aber eine Kopie. Laut einem späteren Bericht der Küstenwache war im Frontex-Bericht lediglich von einem Boot die Rede, das auf seiner Route unterwegs war und sich in einem guten schwimmfähigen Zustand befand, wobei an Deck nur eine Person zu sehen war.

APA/APA/AFP/STRINGER

Aus der Stellungnahme des Sprechers der Frontex geht jedoch hervor, dass vom Flugzeug dank seiner Wärmesensoren auch entdeckt wurde, dass sich „unter Deck möglicherweise viele weitere Personen befanden“. Laut Frontex waren zudem keine Rettungswesten sichtbar. Außerdem nahmen Sensoren des Flugzeugs wahr, dass an Bord des Boots eine Person mit der Türkei telefonischen Kontakt hielt. Es war also offensichtlich, dass es sich um ein Boot einer türkischen Menschenschmugglerbande handelte.

Twitter/Vigili del Fuoco

Da es nur mehr über wenig Treibstoff verfügte, drehte das Frontex-Flugzeug nach der Alarmierung der Behörden ab. Die Küstenwache ihrerseits griff nicht ein, weil die Finanzwache ihr ihren eigenen Einsatz bereits angekündigt hatte. Dies wäre nach der bisher vorliegenden Rekonstruktion der entscheidende Punkt. Der Frontex-Bericht soll darauf hingedeutet haben, dass sich das Boot in einem guten Zustand befand und sogar in der Lage war, dem zu diesem Zeitpunkt herrschenden hohen Seegang standzuhalten. Aus diesem Grund sei kein SAR – Search and Rescue-, Such- und Rettungseinsatz – sondern nur ein Einsatz zum Abfangen der Schleuser und Menschenschmuggler in die Wege geleitet worden.

Twitter/Vigili del Fuoco

Die Finanzwache schickte von den Häfen von Crotone und Tarent aus jeweils ein Boot los. Aufgrund der schlechten Wetterbedingungen und des hohen Seegangs konnten die beiden Patrouillenboote das Flüchtlingsboot aber nicht erreichen und kehrten um. Daher wurde eine Suchaktion an Land vorgenommen. Kurz gesagt ging man davon aus, dass das Boot die Küste erreichen würde und die Menschenschmuggler und die Flüchtlinge dort abgefangen werden könnten.

Die italienische Küstenwache verfügt jedoch auch über Patrouillenboote der Klasse 300, die für die Seenotrettung geeignet sind und mit Seegang bis zur Stärke 8 zurechtkommen. Da jedoch kein Such- und Rettungseinsatz angeordnet wurde, liefen Boote der Klasse 300 nie aus.

Von dem, was sich unterdes auf dem Flüchtlingsboot abspielte, berichten Überlebende der Flüchtlingskatastrophe. Da sie in der Ferne Lichter erkannten und daher glaubten, in die Hände der Polizei zu geraten, wechselten die Menschenschmuggler plötzlich den Bootskurs. Wenig später lief das marode Boot in einer Untiefe auf Grund. Da Wasser in den Rumpf des Boots eindrang, brach unter den Flüchtlingen Panik aus. Als gewiss war, dass das Schiff sinken würde, ließen die Schlepper das Beiboot zu Wasser und ergriffen die Flucht. Infolge des hohen Wellengangs brach das Boot kurz darauf auseinander, wodurch Dutzende von Flüchtlingen ertranken. Vermutlich kaum der Hälfte der Menschen gelang es, schwimmend den Strand bei Steccato di Cutro zu erreichen.

Facebook/Cutro, Partecipante del gruppo

Erst nach dem Untergang des Boots am frühen Sonntagmorgen gegen 4.30 Uhr erhielt die Küstenwache durch die Carabinieri, die an der Küste Patrouillengänge durchführten, eine „Notfallmeldung“. Nach dieser Meldung wurden umgehend die Rettungsmaßnahmen eingeleitet, aber da war es offensichtlich schon zu spät.

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Der Staatsanwalt von Crotone, Giuseppe Capoccia, kündigte an, dass die Staatsanwaltschaft versuchen werde, „die Kette der Rettungsmaßnahmen von der Sichtung des Boots an detailgetreu zu rekonstruieren“, dass es aber „keine Ermittlungen“ wegen unterlassener Hilfeleistung gebe.

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Seit der Flüchtlingskatastrophe, bei der vor der kalabrischen Küste bei Steccato di Cutro Dutzende von Menschen, darunter viele Kinder, ihr Leben verloren, liefern sich die italienische Regierung und die Opposition einen heftigen Schlagabtausch. Die neue Parteisekretärin des PD, Elly Schlein, ging sogar so weit, den Rücktritt von Innenminister Matteo Piantedosi zu fordern. Während Flüchtlingsorganisationen und die Opposition die Regierung beschuldigen, nicht alles unternommen zu haben, um die Flüchtlinge zu retten, beteuert die Regierung, dass es keine Verspätungen gegeben habe. Aus der ersten Rekonstruktion der Ereignisse scheint jedoch hervorzugehen, dass die schwierige Lage, in der sich das Boot vor der italienischen Küste befand, fatalerweise unterschätzt worden sein könnte.

 

Von: ka