Von: ka
Rom – Während eine von Coronaviren, von Grippeviren und von Respiratorischen Synzytial-Viren (RSV) gebildete, gleichzeitig stattfindende starke Infektionswelle – eine „Tridämie“ – im Gange ist, ist unter Wissenschaftlern eine lebhafte Debatte im Gange, ob diese starke Welle nicht auf die Covid-19-Maßnahmen wie Maskenpflicht und soziale Distanzierung zurückzuführen sei. Bei diesen Expertendiskussionen spielt besonders das mögliche Vorhandensein einer „Immunschuld“ eine Rolle.
Drei Viren – das Coronavirus, das Influenzavirus und das Respiratorische Synzytial-Virus(RSV) – die im gleichen sozialen Umfeld und in derselben Jahreszeit aufeinandertreffen, verursachen doppelte und dreifache Infektionen, denen kaum zu entkommen ist. Bis vor Kurzem war es „nur“ die weit verbreitete Omikron-Variante des Coronavirus, die viele Südtiroler und Italiener ans Bett band, aber seit sich zur SARS-CoV-2-Pandemie auch die von den beiden anderen Viren verursachten Infektionen gesellen, gibt es kein Halten mehr. Italienweit werden die Notaufnahmen regelrecht gestürmt.
Viele fragen sich, warum die Coronaschutzimpfung sowie der bereits durch eine frühere Infektion erworbene Schutz keine Wirkung zeigen und warum gerade das Respiratorische Synzytial-Virus heuer bei Kindern so aggressiv sei. Um dieses Phänomen zu erklären, beruft sich ein großer Teil der wissenschaftlichen Gemeinschaft auf das Konzept der „Immunschuld“.
Einigen Experten zufolge wird mit diesem Begriff ein verminderter Immunschutz beschrieben, der auf die fehlende Exposition gegenüber einem Krankheitserreger zurückzuführen ist. Laut diesen Experten führten die Coronamaßnahmen wie die Maskenpflicht, die soziale Distanzierung sowie die „Stilllegung“ fast des gesamten öffentlichen Lebens, insbesondere der Schul- und Arbeitswelt, dazu, dass das Immunsystem weniger Gelegenheiten vorfand, die eigene Effizienz zu „trainieren“ und somit die Antikörperantwort zu stärken.
Vor allem im Hinblick auf das Respiratorische Synzytial-Virus, das derzeit unter Kindern und Neugeborenen am weitesten verbreitet ist, wird diese „Immunschuld“ in der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet von Wissenschaftlern als besorgniserregend bezeichnet.
In der medizinwissenschaftlichen Studie mit dem Titel „VRS: paying immunity debt with interest“ wird das Respiratorische Synzytial-Virus(RSV) mit 60 bis 80 Prozent der Krankenhauseinweisungen mit Bronchiolitis als Hauptverursacher der Winterepidemie genannt. Bronchiolitis ist in entwickelten Ländern bei Säuglingen die häufigste Ursache für Krankenhausaufenthalte. In diesem Zusammenhang wurden vonseiten einiger Experten „Bedenken geäußert, dass es in Zukunft aufgrund der sogenannten Immunschuld zu schwereren RSV-Epidemien kommen könnte“.
„Da in diesem Fall eine vorübergehende Immunität durch die Exposition gegenüber dem Virus erreicht wird, wobei die mütterlichen Antikörper dazu neigen, schnell abzunehmen, ist diese Immunschuld bei RSV besonders besorgniserregend. Ohne saisonale Exposition lässt die Immunität nach und die Anfälligkeit für zukünftige und möglicherweise schwerere Infektionen steigt“, warnen diese Wissenschaftler.
Die Frage, wie hoch diese „Immunschuld“ sei und ob und falls ja, in welchem Maße die Coronamaßnahmen schuld an der starken „Tridämie“ seien, ist nicht leicht zu beantworten. Zunächst muss klargestellt werden, dass die Herbst- und Wintersaison seit jeher durch die Verbreitung von zwei Viren – den Respiratorischen Synzytial-Viren(RSV), gegen die es keine Impfung gibt und die in Europa jedes Jahr Zehntausende von Fällen und leider auch Todesfälle verursachen, und den Grippeviren – gekennzeichnet ist. Zu diesen beiden Viren gesellt sich das Coronavirus.
„Die Beziehung zwischen dem Organismus und seiner Umwelt ist in der Wissenschaft unbestreitbar, und es ist unbestreitbar, dass die auf ein Minimum reduzierte Exposition gegenüber Reizen zu einer erhöhten Anfälligkeit für bestimmte Infektionen geführt hat“, erklärt der Leiter der klinischen Immunologie und Vakzinologie am Kinderkrankenhaus Bambino Gesù in Rom, Paolo Palma.
Eine am Kinderkrankenhaus Regina Margherita durchgeführte Studie bestätigt den Anstieg der von RSV verursachten Fälle von Bronchiolitis. Für die Mediziner ist dies ein Zeichen für das Vorhandensein dieser Immunschuld.
Andere Wissenschaftler hingegen üben an dieser Erklärung heftige Kritik. Die andere Hypothese der „Immunschuld“ sieht die Ursache für die Zunahme der Infektionen, insbesondere bei Kindern und Säuglingen, in der verzögerten Exposition gegenüber diesen Krankheiten in den letzten zweieinhalb Jahren, die auf die Coronamaßnahmen zurückzuführen sind. Nach dieser Erklärung würde es mindestens zwei Jahrgänge von Kindern und Kleinkindern geben, die durch die Aufhebung der bisher in den Schulen und Kindergärten geltenden Beschränkungen und Distanzierungen nun das erste Mal mehreren Viruserkrankungen gleichzeitig ausgesetzt sind.
Colin Furness, Epidemiologe für Infektionskontrolle und Professor an der Universität von Toronto, kann diesen Erklärungsversuchen wenig abgewinnen und glaubt vielmehr, dass der wahre Übeltäter das Coronavirus sei. Die Häufung der Krankenhausaufenthalte und die Zunahme schwerer Verläufe seien nicht auf Einschränkungen oder eine verzögerte Exposition gegenüber Krankheitserregern zurückzuführen, sondern auf das Coronavirus und dessen Fähigkeit, das Immunsystem zu schädigen.
Some like to blame mask wearing last year for a grotesque spike in severe child illness this year.
That view is entirely wrong. But regardless, BC had no protections to blame. No masks or HEPA filters at school. Unsurprisingly, they had record levels of RSV last year.
— Colin Furness MISt PhD MPH (@FurnessColin) November 23, 2022
„Es ist noch nicht klar, wie viel Schaden SARS-CoV-2 anrichten kann und welche langfristigen Auswirkungen es haben könnte“, meint Colin Furness. „Das ist das Einzige, worüber wir uns wirklich Sorgen machen sollten“, fügt der Immunologe hinzu. Ein Anliegen, das der Professor auch angesichts der Verbreitung des seiner Ansicht nach „irreführenden Konzepts der Immunschuld“ anmahnt. Der Meinung von Colin Furness zufolge lenkt die Debatte um die angebliche Existenz einer Immunschuld die Wissenschaft von den wichtigen Fragen ab, die eigentlich zu stellen sind, ab.
Aber die Debatte um die Immunschuld wird durch diese Diskussionen erst befeuert.