Ermittlungen wegen fahrlässiger Auslösung einer Epidemie – VIDEO

„Öffnet nicht die Diskotheken in Sardinien“: Region ignoriert Experten

Donnerstag, 12. November 2020 | 07:20 Uhr

Cagliari – In Sardinien, das von der ersten Corona-Welle zwar nur gestreift, aber dann während und nach der touristischen Hochsaison im August von einer wahren Flut von Neuansteckungen heimgesucht worden war, wurde vonseiten der Staatsanwaltschaft von Cagliari ein Verfahren wegen fahrlässiger Auslösung einer Epidemie eröffnet.

Die Ermittlungen kamen ins Rollen, weil bekannt geworden war, dass die sardische Regionalregierung trotz eines negativen Gutachtens des lokalen Technisch Wissenschaftlichen Komitees (CTS) dem Druck der Diskothekenbetreiber nachgegeben und im August einer verlängerten Öffnung der Tanzlokale zugestimmt hatte.

ANSA

Im Corona-Jahr ging die bei Touristen sehr beliebte Mittelmeerinsel Sardinien durch ein Wechselbad der Gefühle. Die von der ersten Corona-Welle lediglich gestreifte Insel, die noch im Mai für „Covid-19-freie Sardinienferien“ geworben hatte, verzeichnete im Sommer infolge des Zustroms von Urlaubern vom Festland eine ständig ansteigende Anzahl von Neuansteckungen. Um die für die Inselwirtschaft wichtige Sommersaison zu retten, ignorierten die politisch Verantwortlichen Sardiniens sowohl die erst wenige Monate alten Ziele, die Sarden zu schützen und die Insel „Corona-sauber“ zu halten, als auch die sich anbahnende neue Corona-Gefahr.

Facebook/Billionaire Porto Cervo

Selbst als am 7. August die römische Regierung per Dekret des Präsidenten des Ministerrates die Schließung der Diskotheken verfügte, es aber den Regionen offenließ, sie an den lokalen Gegebenheiten angepasst doch länger geöffnet zu halten, fuhr die sardische Regionalregierung fort, eine „liberale Corona-Politik“ zu betreiben. Allerdings wurde der Entwurf einer Verordnung des Präsidenten der Region Sardinien, deren Zweck es war, mit einigen kleineren Einschränkungen die Schließung der Tanzlokale zu verhindern, vom sardischen Technisch-wissenschaftlichen Komitee (CTS) verworfen. „Wir erleben die Öffnung von Betrieben, in denen der Menschenauflauf sogar als Werbeanreiz zur Schau gestellt wird. Der Entwurf wird vom Komitee nicht genehmigt“, so die unmissverständlichen Worte des lokalen CTS, der den vorgelegten Entwurf als „konfus“ bezeichnete und die vorgeschlagenen Kontrollen als in der Praxis nicht durchführbar einstufte.

Trotz des negativen Gutachtens des sardischen Technisch-wissenschaftlichen Komitees wurde der Entwurf Grundlage einer entsprechenden Verordnung, die später vom Präsident der Region Sardinien, Christian Solinas, unterschrieben wurde. Ziel der Verordnung war es anscheinend, für die bekannten Diskotheken der Costa Smeralda den wichtigen Ferragosto zu retten. Gegenüber der Rai-Sendung „Report“ gab dies der Fraktionsvorsitzende der Forza Italia-Regionalratsabgeordneten, Angelo Cocciu, auch offen zu.

Facebook/PRAJA GALLIPOLI

„Es ging darum, die Diskotheken bis zum Ferragosto noch ein paar Tage offenzulassen. Wir wussten, dass die Infektionen zunahmen, und wir riskierten es. Wir wollten die Tanzlokale nicht bis Ende August offenhalten, denn ansonsten hätten wir Sardinien umgebracht. Es war nur eine Frage von ein oder zwei Tagen. Ich bekam sehr viele Anrufe von Inhabern, die uns baten, noch ein paar Tage hinzuzufügen. Das Billionaire und das Phi Beach hatten zum Beispiel sehr hohe Verträge mit wichtigen DJs“, so Angelo Cocciu.

Facebook/PRAJA GALLIPOLI

Im August stand die sardische Regionalregierung unter großer Anspannung. Obwohl die Anzahl der Neuansteckungen schon lange vor Ferragosto sprunghaft zugenommen hatte, gab Christian Solinas dem ständigen Druck der Betreiber der Tanzlokale nach und unterschrieb am 11. August die Verordnung, die es ihnen ermöglichte, noch ein paar Tage offenzubleiben. Erst angesichts der besorgniserregenden Corona-Zahlen zog die Regionalregierung am 16. August die Verordnung zurück und schloss die Diskotheken. In den Wochen darauf wurde Sardinien von einer wahren Flut von Neuansteckungen heimgesucht. Auch der weltweit bekannte italienische Sport- und Industriemanager Flavio Briatore, der sich auch als Formel-1-Teamchef und Betreiber einer exklusiven Diskothek, des „Billionaire Club“ – zu deutsch „Club der Milliardäre“ – in Porto Cervo an der Costa Smeralda auf Sardinien, einen Namen gemacht hatte, wurde positiv auf das Coronavirus getestet und musste in der Folge mit ernsten Symptomen einer Lungenentzündung in das Mailänder Krankenhaus „San Raffaele“ eingeliefert werden.

Facebook/PRAJA GALLIPOLI

Diese vom CTS negativ bewertete Verordnung fällt heute der Regionalregierung und insbesondere dem Präsidenten Sardiniens auf die Füße. Wurde im August die Gesundheit der Sarden riskiert, um einigen Diskotheken das Ferragosto-Geschäft zu retten? Dieser Frage geht heute die Justiz nach. Vonseiten der Staatsanwaltschaft von Cagliari wurde ein Verfahren wegen fahrlässiger Auslösung einer Epidemie eröffnet. Die Tatsache, dass ein negatives Gutachten eines offiziellen Technisch-wissenschaftlichen Komitees, das die vorgeschlagenen Corona-Maßnahmen als unzureichend bewertet hatte, ignoriert wurde, dürfte heute nicht wenigen politisch Verantwortlichen der sardischen Regionalregierung schlaflose Nächte bereiten. Im Falle eines Prozesses und einer Verurteilung riskieren die verantwortlichen Politiker hohe Strafen.

Dies ist auch ein Wink mit dem Zaunpfahl für alle Lokalpolitiker Italiens. Wer bei Öffnungen und Erleichterungen jeglicher Art die Meinung der zuständigen Experten – in diesem Fall war es die offizielle Einschätzung der Gefahrenlage des Technisch-wissenschaftlichen Komitees Sardiniens – in den Wind schlägt, könnte im Falle steigender Zahlen von Neuansteckungen später dafür vor Gericht geradestehen.

Von: ka