Von: ka
Mailand – Die Piazza Gae Aulenti in Mailand war am Montagmorgen Schauplatz einer Bluttat, die viele Fragen aufwirft. Die 43-jährige Anna Laura Valsecchi durchschritt gegen 9.00 Uhr den Platz, auf dem zu dieser Zeit viele Pendler unterwegs waren, als sie plötzlich von einem älteren Mann verfolgt wurde. Der Unbekannte zog ein Messer und rammte es der Frau in den Rücken. Blutüberströmt brach die 43-Jährige auf dem Platz zusammen, während der Täter das Weite suchte.
Anna Laura Valsecchi war noch bei Bewusstsein, als am Tatort der Notarzt des Rettungsdienstes 118 und die Carabinieri eintrafen. „Man hat mich mit einem Messer angegriffen“, sagte das Opfer. Die Tatwaffe, ein über 20 Zentimeter langes Küchenmesser, steckte noch immer in ihrem Rücken. „Sie lag noch immer da, mit dem Messer im Rücken. Aber sie war wach und bei Bewusstsein, zumindest bis sie betäubt wurde“, berichtete ihr Mann, der in der Nähe arbeitet und von einem der Retter sofort zu ihr gerufen wurde.

Während der Rettungsmaßnahmen gelang es der Frau in den wenigen Augenblicken, die ihr blieben, ihrem Mann einige Worte zuzuflüstern: „Es war ein Verrückter!“ Die Frau wurde nach der Erstversorgung mit höchster Dringlichkeitsstufe in die Notaufnahme des Mailänder Krankenhauses Niguarda gebracht. Anna Laura Valsecchi wurde notoperiert und ist außer Lebensgefahr, doch die Ärzte bleiben vorsichtig. „Die Ärzte haben mir gesagt, dass die Operation gut verlaufen ist, aber dass die nächsten 48 Stunden entscheidend sind. Es kann sich verbessern oder verschlechtern. Wir müssen abwarten, wie es weitergeht, aber es ist unglaublich. Es ist wie im Film, ein schlechter Film“, ringt der Mann des Opfers um Worte.
Die Carabinieri begannen umgehend damit, die Videos der zahlreichen Überwachungskameras auf und in der Nähe des Platzes auszuwerten. Sie wurden bald fündig. Kurz nachdem sie Bilder des mutmaßlichen Täters veröffentlicht hatten, erhielten sie nacheinander zwei Anrufe – einen von einer Rehabilitationsgemeinschaft für psychisch gestörte Straftäter und den anderen von der Zwillingsschwester des älteren Mannes. Beide teilten den Carabinieri mit, dass es sich bei dem Mann auf den Bildern um den 59-jährigen Vincenzo Lanni handelte.
Nach einigen kurzen Kontrollen gelang es den Beamten der Carabinieri noch am selben Abend, Vincenzo Lanni in einem Zweisternehotel, das nur 20 Gehminuten vom Tatort entfernt lag, zu stellen. Der 59-Jährige, der noch immer die gleichen Kleider trug, ließ sich widerstandslos festnehmen. Vor den Ermittlern, die ihn nach über zehnstündiger Flucht aufgespürt hatten, gestand Lanni alles. „Ich habe es getan“, gab er unumwunden zu. „Ich kannte diese Frau nicht. Ich hoffe, es geht ihr gut“, sagte er und stellte klar, dass er sie zufällig unter den Passanten ausgewählt hatte. „Ich habe sie zufällig ausgewählt“, fügte er inmitten verworrener Sätze hinzu, mit denen er zu erklären versuchte, dass er sie unter dem Unicredit-Hochhaus auf diesem Platz angegriffen habe, da dieses „ein Symbol der Wirtschaftsmacht“ sei.
Er wiederholte, er habe etwas gegen die „Wirtschaftsmacht“, die ihn vor zehn Jahren aus seinem Job als Programmierer entlassen habe. „Ich habe darüber nachgedacht, ich habe es geplant“, so Lanni. Er sprach von einem „Motiv, das mit Unzufriedenheit am Arbeitsplatz zusammenhängt“, wie seine Anwältin Beatrice Lizzio erklärte. Allerdings habe es, so Lizzio, auch Ressentiments gegenüber den Betreuern der Rehabilitationsgemeinschaft „4Exodus“ in der Nähe von Varese gegeben. Lanni war am Donnerstag aus dieser Gemeinschaft ausgeschlossen worden, nachdem er sich mit einem anderen Betreuten heftig gestritten hatte.
Die Vorgeschichte lässt einen erschaudern. Vor genau zehn Jahren hatte der kurz zuvor arbeitslos gewordene Vincenzo Lanni in der Val Seriana bei Bergamo zwei Zufallsopfer – einen 82-Jährigen und einen 80-Jährigen – auf die gleiche Art und Weise mit einem Messer angegriffen und schwer verletzt. Lanni wurde eine schizoide Persönlichkeitsstörung bescheinigt und eine verminderte Zurechnungsfähigkeit zuerkannt. Am 19. Mai 2016 wurde er wegen beider Verbrechen zu acht Jahren Haft und weiteren drei Jahren zwangsweiser Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung verurteilt.
Der Aufenthalt im Gefängnis und später in der psychiatrischen Einrichtung führte jedoch offenbar nicht zu einer Besserung oder gar Heilung seiner psychischen Erkrankung. Dies zeigt ein bedenklicher Vorfall von vor zwei Jahren. Nach Verbüßung der achtjährigen Haftstrafe war er auf Bewährung, als er von der Bahnpolizei in Varese festgenommen wurde. Die Polizisten fanden ein Messer in seinem Rucksack. Die Anzeige blieb jedoch folgenlos und er wurde nicht in die Sicherungsverwahrung zurückgebracht. Stattdessen wurde er offenbar in die Freiheit entlassen.
Kurz darauf landete Vincenzo Lanni in der Rehabilitationsgemeinschaft. Nach seinem Rauswurf quartierte er sich am 30. Oktober in ein Hotel ein. Er kaufte sich ein Messer, den Kassbon sicherten die Carabinieri später in seinem Hotelzimmer. Dann begann er, nach einem Zufallsopfer Ausschau zu halten. Anna Laura Valsecchi hatte er nie kennengelernt, doch als sie ihm auf der Piazza Gae Aulenti über den Weg lief, stach er zu. „Ich habe es getan”, sagte er und ließ sich festnehmen.
Seitdem fragen sich die Italiener weit über Mailand hinaus, warum ein offensichtlich unheilbar psychisch kranker Mann, der an einer schizoiden Persönlichkeitsstörung leidet, sich frei in der Öffentlichkeit bewegen konnte.




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