„Besetzter Stuhl“ im Landtag

Das sagt Politik zu Gewalt gegen Frauen

Donnerstag, 24. November 2022 | 17:00 Uhr

Bozen – Auch in diesem Jahr beteiligt sich der Südtiroler Landtag anlässlich des Tages gegen Gewalt an Frauen am 25. November an der Sensibilisierungskampagne zum Gedenken an Frauen, die Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt geworden sind. „Wir möchten Frauen, die gefährdet sind, das Gefühl vermitteln, dass es ein Netzwerk gibt, das sie unterstützt, wenn sie Anzeige erstatten wollen“, sagt Präsidentin Rita Mattei.

In Italien wird jeden dritten Tag eine Frau ermordet. Letzter Fall in Südtirol war der Mord an einer Frau am 23. Oktober, nun wird gegen ihren Partner ermittelt. Aus diesem Grund beteiligt sich der Landtag erneut an der Aktion „Posto occupato/Besetzter Platz“: Ab morgen, dem internationalen Tag zur Beendigung der Gewalt gegen Frauen, wird ein roter Stuhl mit weiblichen Accessoires am Eingang des Landtags aufgestellt. Damit soll die Leere symbolisiert werden, die jede Frau in der Gesellschaft hinterlässt, die Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt wird, meist durch einen Partner oder ein Familienmitglied. Der Stuhl wird bis zum 10. Dezember, dem internationalen Tag der Menschenrechte, stehen bleiben.

Gewalt gegen Frauen äußert sich in zahlreichen Formen, Femizide sind nur die Spitze des Eisbergs. Neben körperlicher Aggression gibt es auch subtilere Formen: von psychischer über wirtschaftliche Gewalt bis hin zu Hassrede im Internet, ein Phänomen, von dem hauptsächlich Frauen betroffen sind.

„Über dieses Thema kann nie genug gesprochen werden”, sagt Landtagspräsidentin Rita Mattei. „Verschiedene Einrichtungen und das Land Südtirol tun zwar viel im Kampf gegen die Gewalt an Frauen, dennoch gibt es leider immer mehr Fälle, und der Ort, wo es am häufigsten dazu kommt, ist der familiäre Rahmen. Der Quästor von Bozen hat mich darauf hingewiesen, dass Vorfälle in den eigenen vier Wänden oft nicht angezeigt werden, sodass die Sicherheitsbehörden nicht tätig werden können.“

Landtagspräsidentin Mattei betonte auch: „Frauen müssen wissen, dass sie, wenn sie Anzeige erstatten, von den Institutionen geschützt werden und diese stets Vertraulichkeit wahren. In den schwierigsten Fällen können sich Betroffene auch an ein Frauenhaus wenden, einen sicheren Hafen, in dem sie vor gefährlichen Übergriffen geschützt sind.” Diesen Schritt machen alljährlich hunderte Frauen in Südtirol, indem sie die Grüne Nummer der GEA-Kontaktstelle gegen Gewalt 800 276 433 anrufen. Zudem kann jederzeit die Notrufnummer 112 kontaktiert werden, wo Frauen, die sich in Gefahr fühlen oder aus dem Kreislauf der Gewalt oder des Stalkings herauskommen wollen, an die richtige Person oder Stelle weitergeleitet werden. „Der Landtag stellt den roten Stuhl von ‚Posto occupato/Besetzter Platz‘ auch deshalb auf, um Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind, darauf hinzuweisen, dass es ein Netzwerk gibt, das ihnen helfen kann”, unterstreicht Mattei.

Unterberger: Noch ein langer Weg

Trotz erhöhter öffentlicher Aufmerksamkeit, trotz Gesetzen wie dem „Codico rosso“, trotz Einführung neuer Straftatbestände und höheren Strafen nimmt die Gewalt gegen Frauen kein Ende. Seit Jahresbeginn hat es in Italien bereits 95 Frauenmorde gegeben. Dies betont die Vorsitzende der Autonomiegruppe Julia Unterberger anlässlich des „Internationalen Tages gegen Gewalt an Frauen“.

„Leider ist das Patriarchat in unserer Gesellschaft so tief verwurzelt, dass es gewissermaßen eines ihrer Grundprinzipien darstellt. Es gilt, dieser Pseudokultur der männlichen Überlegenheit entgegenzuwirken. Denn sie führt zu Ungleichheiten in der Arbeitswelt, zum unzureichenden Zugang zu Führungspositionen, sowie zur fehlenden Aufteilung der Aufgaben in Haushalt und Familie“, erklärt die SVP-Senatorin.

„Die formale Gleichberechtigung haben wir zwar inzwischen erreicht, jedoch sind wir aufgerufen, uns für die tatsächliche Gleichstellung zwischen Mann und Frau einzusetzen. Es gilt alle unsichtbaren Mechanismen der Unterordnung des Weiblichen unter das Männliche zu erkennen und zu bekämpfen. Diese finden sich nach wie vor in der medialen Darstellung. Und auch in der italienischen Sprache, welche die weibliche Form nur für rangniedrige Positionen kennt, während sie für Spitzenpositionen ausschließlich das Männliche verwendet“, so Unterberger.

Gleichzeitig gebe es auch Gesetzeslücken, die dringend geschlossen werden müssen: Der „Codice rosso“ habe wichtige neue Straftatbestände wie etwa den „Revenge porn“ eingeführt. Der Straftatbestand, der die Hassdelikte, darunter auch jene gegen Frauen vorsieht, müsse aber noch das Licht der Welt erblicken. „Diesbezüglich habe ich, auch in der neuen Legislaturperiode, bereits einen Gesetzentwurf vorgelegt. Dieser betrifft vor allem das Internet, wo der Hass und die Anstiftung zu diesem, vor dem Hintergrund der völligen Straffreiheit, ein absolutes Höchstmaß erreicht“, so Unterberger.

„Ein anderer Knackpunkt sei das Fehlen von ausreichenden vorbeugenden Maßnahmen zum Schutz vor potentiellen Gewalttätern in der Strafprozessordnung. Die Staatsanwaltschaft und die Gerichtspolizei müssen die Befugnis erhalten, Beschuldigte bei ernsthafter und unmittelbarer Gefahr von Gewalttaten in Haft nehmen zu können – genauso wie es im Gesetzentwurf der Regierung Draghi vorgesehen war, welcher dem Senat zum Zeitpunkt der vorzeitigen Auflösung des Parlaments vorlag“, verlangt Unterberger.

Was es so schnell wie möglich braucht, sei ein Zusammenspiel von sozialen, kulturellen und strafrechtlichen Ansätzen, um die Gewalt gegen Frauen, in all ihren Erscheinungsformen zu bekämpfen. Nur so werde es möglich sein, diese gesellschaftliche Fehlentwicklung zeitnah aus der Welt zu schaffen.

Mair: „Die Zeit ist reif für eine Null-Toleranz-Strategie“

Nach wie vor erfahren Mädchen und Frauen zu Hause, in der Schule, am Arbeitsplatz, in der Öffentlichkeit und im Internet Gewalt, die viele Formen kennt und in jeder sozialen Schicht anzutreffen ist. Die freiheitliche Landtagsabgeordnete Ulli Mair mahnt zu mehr Aufmerksamkeit, um Gewaltsituationen zu erkennen und die Opfer zu schützen.

„Die alljährlichen Erhebungen machen mehr als deutlich, dass politische Entscheidungsträger wirksame und effiziente Maßnahmen gegen die verbreitete Gewalt gegen Frauen und Mädchen ergreifen müssen. Hierbei müssen vor allem die Bedürfnisse und Rechte der Gewaltopfer nicht nur auf dem Papier berücksichtigt, sondern auch in der Praxis umgesetzt werden“, betont die freiheitliche Landtagsabgeordnete Ulli Mair in einer Aussendung einleitend. „Körperliche, sexuelle und psychische Gewalt gegen Frauen ist eine gravierende Menschenrechtsverletzung. Mädchen und Frauen, die Opfer von Gewalt wurden, brauchen sichere, einfache und leicht zugängliche Meldemöglichkeiten. Sperr- und Schutzanordnungen müssen zudem schneller umgesetzt werden. Fachkräfte im Gesundheitswesen sollen angehalten werden, begründete Verdachtsfälle zu melden“, unterstreicht Mair.

„Die Daten über Gewalt gegen Frauen sollen nicht nur erhoben, sondern innerhalb der EU ständig beobachtet, ausgetauscht und bewertet werden, um die Maßnahmen anzupassen. Es müssen finanzielle Mittel bereitgestellt werden, um spezielle Opferhilfe zu garantieren. Sicherheitskräfte, die bereits viel leisten, medizinisches Fachpersonal, aber auch Arbeitgeber sowie Mitarbeiter von Opferhilfe-Einrichtungen sollen ständig geschult und mit den notwendigen Mitteln und Befugnissen ausgestattet werden, damit sie Gewaltopfer schneller und besser unterstützen können“, fordert die freiheitliche Landtagsabgeordnete.

„Das enorme Ausmaß des Problems verdeutlicht, dass Gewalt gegen Frauen nicht nur einige wenige Frauen betrifft, sondern sich tagtäglich auf die gesamte Gesellschaft auswirkt. Politiker, Interessensvertreter der Zivilgesellschaft sowie Hilfseinrichtungen müssen deshalb gemeinsam ihre bisherigen Maßnahmen einer kritischen Prüfung unterziehen, um das Problem der Gewalt gegen Frauen in jedem Bereich der Gesellschaft anzugehen. Die Zeit ist reif, eine breit angelegte Null-Toleranz-Strategie zur wirksamen Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen auf den Weg zu bringen. Dazu braucht es immer wieder Bewusstseinsbildung, sowohl für Frauen als auch für Männer. Die Sensibilisierungskampagnen müssen sich künftig verstärkt auch an Frauen richten“, betont Ulli Mair abschließend.

Amhof: „Mädchen und Frauen! Lasst euch helfen!“

„Seit dem grausamen Tod von Jina (Masha) Amini gehen tausende Mädchen und Frauen im Iran auf die Straßen und riskieren ihr Leben im Kampf um Selbstbestimmung und Gleichberechtigung. 340 Menschen sind im Rahmen dieser Proteste getötet worden – doch der Mut der Frauen ist größer als ihre Angst. Sie verbrennen ihre Kopftücher und schneiden sich in der Öffentlichkeit ihre Haare ab. Millionen Frauen und Männer aus vielen Ländern der Welt setzen Zeichen der Solidarität – auch in Südtirol. Hierzulande brauchen wir nicht befürchten, dass man uns verhaftet, wenn wir uns die Haare abschneiden. Wir brauchen nicht um unser Leben bangen, wenn wir auf Straßen und Plätzen für die Gleichberechtigung von Frauen demonstrieren. Zum Glück ist das bei uns anders. Wir wissen uns in Schutz und Sicherheit“, erklärt die SVP-Landtagsabgeordnete Magdalena Amhof.

Doch das stimme nicht ganz. „Denn, solange Frauen auf gewaltsame Art und Weise sterben müssen, sind Schutz und Sicherheit noch in weiter Ferne. Offizielle Schätzung besagen, dass mehr als 35 Prozent aller Frauen mindestens einmal in ihrem Leben Gewalt erfahren müssen; das trifft auch auf uns Südtirolerinnen zu! Gewalttaten gegenüber Frauen sind auch in unserem schönen Land aktueller denn je. Zu viele Mädchen und Frauen sind täglich den unterschiedlichsten Formen von Gewalt ausgesetzt“, so Amhof.

Aus Angst und bedauerlicherweise oft aus Scham würden sich die meisten Betroffenen immer noch nicht trauen, darüber zu sprechen und Hilfe anzufordern. „Das muss sich ändern! Das Gesetz schützt alle Gewaltopfer, sie haben das Recht und den Anspruch auf Hilfe. Deshalb: Mädchen und Frauen, bittte, redet darüber! Niemand muss Gewalt über sich ergehen lassen und niemand darf mitansehen, wie jemandem Gewalt zugefügt wird. Courage und Zivilcourage sind die wertvollsten Helfer in Gewaltsituationen: Wir müssen uns melden, wenn wir Gewalt erfahren, wir müssen darüber reden, wenn wir Gewalt vermuten und wir müssen einschreiten, wenn wir Gewalt erkennen. Bitte holt (euch) Hilfe und wählt die 112. Gewalt ist immer ein Notfall!“, so Amhof.

Von: mk

Bezirk: Bozen