Chemiefabrik soll geschlossen werden

Rösch bezieht Stellung zur Solland Silicon

Dienstag, 18. Juni 2019 | 07:43 Uhr

Meran – Bei der gestrigen Sondersitzung des Gemeinderats hat Bürgermeister Paul Rösch ausführlich Stellung zur Situation der Solland Silicon in Sinich genommen, die nach der letzten gescheiterten gerichtlichen Versteigerung nun entleert und geschlossen werden soll.

In seiner Rede schilderte Rösch ausführlich die „fast unglaubliche Geschichte“ der letzten Jahre der Solland Silicon, die er als „echten Wirtschaftskrimi“ bezeichnete. Der Bürgermeister erläuterte, warum ihm in Anbetracht dieser Entwicklungen die Sicherheit der Anlage in Sinich, die unter die Seveso-Bestimmungen zur Vermeidung von Chemieunfällen der EU fällt, nach wie vor Sorgen bereite und zitierte dafür auch Albert Einstein.

Es sei keine einfache Entscheidung, die Solland Silicon zu schließen, „aber angesichts der Faktenlage ist es die richtige Entscheidung“, so Rösch, der aber auch in die Zukunft blickte. „Als Bürgermeister habe ich jede Menge Kritik einstecken müssen, weil ich mich der Verantwortung gestellt und klar ausgesprochen habe, was sich schon seit Jahren abzeichnet. Diesen Preis bin ich bereit zu zahlen“, erklärte Rösch. „Und so, wie ich mich vor dieser Verantwortung nicht gedrückt habe, werde ich auch nicht vor der Verantwortung zurückschrecken, wenn es um die Unterstützung der Arbeiter der ehemaligen Solland Silicon und ihrer Familien geht, die unsere Unterstützung verdienen, damit sie diesen tiefgreifenden Einschnitt in ihrem Leben meistern.“

„Ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um den Arbeitern und ihren Familien eine würdige Zukunft zu bieten“, so Rösch in seiner Rede weiter. „Und ich werde ebenso alles dafür tun, dass die Gewerbezone in Sinich bonifiziert und einer neuen, einer nachhaltigen Nutzung zugeführt wird: als Gewerbegebiet, das innovativen und nachhaltigen Unternehmen eine neue Heimat bietet – und das kann nicht eine Mülldeponie oder eine andere Art von Tätigkeit sein, welche die Umwelt und das Leben der Menschen beeinträchtigt“, unterstrich Rösch.

Es folgt die Rede des Bürgermeisters im Wortlaut zum Nachlesen:

Liebe Mitglieder des Gemeinderats,

zunächst möchte ich einige Fakten festhalten, die in den öffentlichen Wortmeldungen der vergangenen Tage und Wochen von verschiedener Seite zum Teil entweder vergessen oder bewusst ignoriert wurden.

Einen überaus wichtigen Punkt möchte ich all meinen Ausführungen vorausschicken: Die Probleme, die ich in meinen folgenden Ausführungen ansprechen werde, betreffen nicht das Gewerbegebiet Sinich insgesamt oder alle Unternehmen, die dort angesiedelt sind. Sie betreffen auch nicht die Fabrik der Monsanto Electronic Materials Company (kurz: MEMC), auch wenn sie für die Geschichte, wie wir an den heutigen Punkt gelangt sind, natürlich eine Rolle spielt.

Die MEMC ist Teil des US-amerikanischen SunEdison-Konzerns ist, der wiederum seit 2016 vom weltweit agierenden Konzern GlobalWafers übernommen wurde. Die MEMC kann nicht nur auf eine jahrzehntelange Tätigkeit in Sinich zurückblicken, sondern führt mit der Produktion von sogenannten „Silizium Wafers“ in Sinich derzeit eine vollkommen andere Tätigkeit durch als jene Firma, die heute noch unter dem Namen „Solland Silicon“ bekannt ist.

Die Solland hat einige Besonderheiten, die es zu beachten gilt. Zunächst die Produktion selbst: In der Anlage der Solland wird in einem ersten Arbeitsschritt Trichlorsilan produziert, aus dem in einem zweiten Schritt reines, polykristallines Silizium hergestellt wird. Diese beiden Arbeitsschritte sind sozusagen die Vorstufen der Tätigkeit, die die MEMC in Sinich durchführt. Denn dort wird das polykristalline Silizium später in monokristallines Silizium aufgespalten, aus dem in der Folge die erwähnten Silizium Wafers entstehen. Zumindest im Prinzip ist es so – denn in Wirklichkeit hat die Produktion der Solland nie begonnen und die MEMC bezieht ihr polykristallines Silizium aus anderen Quellen. Darauf werden wir noch zurückkommen.

Die Produktionsprozesse der Solland Silicon haben einen großen Nachteil: Das Trichlorsilan ist eine hochgefährliche, farblose Flüssigkeit, die sich beim Kontakt mit Luft entzünden kann. Daher müssen im Umgang damit auch strenge Sicherheitsvorschriften eingehalten werden: Die Fabrik fällt unter die sogenannten Seveso-Bestimmungen. Dabei handelt es sich um die mittlerweile dritte Version einer EU-weiten Richtlinie zur Vermeidung von Chemieunfällen, die in Folge des schweren Chemieunglücks in Seveso (Lombardei) aus dem Jahre 1976 festgelegt wurde.

Das bedeutet auch, dass die Fabrik ständig gewartet und überwacht werden muss: Das allein kostet große Summen an Geld, auch wenn gar nichts produziert wird.

Werfen wir einen kurzen Blick zurück in die Geschichte, um zu verstehen, wo wir heute gelandet sind. Im Jahr 2009 produzierte die MEMC in Sinich noch selbst polykristallines Silizium: Das wurde zum Teil direkt in Sinich weiterverarbeitet, ein größerer Teil wurde aber auch auf dem Weltmarkt verkauft. Das für die Herstellung benötigte Trichlorsilan wurde über aufwendig gesicherte Gefahrenguttransporte mit dem Zug nach Meran gebracht und dann unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen nach Sinich transportiert. Der wichtigste Lieferant des Trichlorsilans war der deutsche Industriekonzern Evonik.

Der Plan, eine Anlage zur Herstellung von Trichlorsilan in Sinich zu errichten, wurde erst 2009 gefasst. Damals beschloss Evonik in Sinich unmittelbar neben dem Areal der MEMC eine Anlage zur Herstellung von Trichlorsilan zu errichten: Der Grund für diese Entscheidung war unter anderem ein langfristig geschlossener Liefervertrag mit der MEMC. Damit sollte der aufwendig und gefährliche Transport vermieden werden. Das Trichlorsilan wäre – wie es im Geschäftsbericht der Evonik wörtlich heißt: „über den Zaun“ – an die MEMC verkauft worden, die es zu polykristallinem Silizium weiterverarbeitet hätte.

Bis 2011 investiert Evonik insgesamt an die 200 Millionen Euro in die neue Produktionsanlage. Doch in diesen zwei Jahren änderte sich der Weltmarkt für polykristallines Silizium radikal. Der Photovoltaik-Markt bricht ein und damit auch der Bedarf an polykristallinem Silizium; gleichzeitig produziert die Konkurrenz im Ausland (v.a. China und Ostasien) viel billiger. Unter diesen Umständen ist die Produktion von polykristallinem Silizium in Sinich nicht mehr profitabel. Auch die SunEdison und damit die MEMC geraten daher unter Druck und in Schieflage. Die Produktion wird umgestellt – in Zukunft produziert die MEMC in Sinich nur mehr monokristallines Silizium.

Die Trichlorsilanproduktion der Evonik nebenan verliert dadurch sofort ihr wichtigstes Argument, nämlich den kurzen Lieferweg zum Kunden, da die MEMC in Zukunft kein Trichlorsilan mehr benötigt, und wird im Dezember 2011 nur wenige Monate nach ihrem Beginn wieder eingestellt. Doch die Evonik pocht auf den langfristigen Liefervertrag – und nach einigem Hin und Her einigen sich die beiden Unternehmen im Herbst 2012: Der Liefervertrag wird aufgelöst und die MEMC übernimmt die Anlage zur Trichlorsilanproduktion, die mittlerweile vor allem Kosten verursacht, weil sie wie erwähnt ständig gewartet und überwacht werden muss. Dafür bezahlt sie eine Gesamtsumme von 70 Millionen Euro. – All diese Sachverhalte sind übrigens für alle nachvollziehbar in den öffentlichen Geschäftsberichten der betroffenen Unternehmen.

Auch die MEMC nimmt die Produktion von Trichlorsilan und polykristallinem Silizium nie wieder richtig auf. Für sie ist es mittlerweile billiger geworden, das benötigte Silizium anliefern zu lassen, als selbst zu produzieren. Die Anlagen, die wenige Jahre davor noch für hunderte Millionen Euro gebaut wurden, entpuppen sich jetzt als Kostenfalle – die MEMC will sie so schnell wie möglich abwickeln oder los werden.

Das ist angesichts der Umstände aber gar nicht so einfach. Unter der Ungewissheit leiden natürlich auch die über 150 Arbeiter, die spätestens ab 2014 nichts mehr produzieren, sondern nur mehr auf eine Anlage im Stand-by-Modus aufpassen.

Es folgt der denkwürdige Auftritt von Massimo Pugliese, der – nach der Vermittlung der Ministerien in Rom – mit seiner Firma „Solland Silicon“ und mit großen Versprechungen im Gepäck im Dezember 2014 den defizitären Betriebszweig der MEMC – nämlich die Produktion von Trichlorsilan und dessen Weiterverarbeitung zu polykristallinem Silizium – übernimmt. Er „bezahlt“ dafür 12,2 Millionen Dollar (nach damaligem Kurs sind das ca. 10 Millionen Euro), die er allerdings in zehn jährlichen Raten bezahlen kann, und erhält von der MEMC zusätzlich noch 9,1 Mio. Dollar an Krediten, rückzahlbar innerhalb von neun Jahren. Wie viel die MEMC von den über 21 Millionen Dollar je bekommen wird, steht auf einem anderen Blatt – aber immerhin sind sie den defizitären Betriebszweig losgeworden.

Alle Versprechungen von Pugliese entpuppen sich als Seifenblasen: Die Solland Silicon lässt die Produktion weiterhin still stehen, bezahlt nach rund einem Jahr aber auch keine Löhne und Rechnungen mehr und schlittert schließlich in den Konkurs, der zu mehreren Zwangsversteigerungen mit dem bekannten Ausgang führt.

Das war eine kurze Zusammenfassung der letzten Jahre dieser manchmal fast unglaublichen Geschichte, die ein echter Wirtschaftskrimi ist. Es gibt noch mehr Aspekte und Details, die ich an dieser Stelle nicht weiter vertiefen will.

Eine Sache möchte ich trotzdem noch unterstreichen. Das betroffene Areal in Sinich ist urbanistisch gesehen nicht eine normale Gewerbezone, wie wir sie in jeder Stadt und in fast jedem Dorf in Südtirol finden. Das Gebiet ist nämlich als „Gewerbegebiet von Landesinteresse“ im Bauleitplan eingetragen. Das bedeutet, dass derzeit das Land alle Entscheidungen in dieser Sache trifft.

Auch in Sachen Zivilschutz ist, wie vom Legislativdekret vom 26. Juni 2015, Nr. 105 vorgesehen, das die genannten Seveso-III-Richtlinie 2012/18 der Europäischen Union in nationales Recht umsetzt, das Land zuständig: Es muss die Einhaltung der Vorschriften kontrollieren und im Notfall einschreiten, wenn die Sicherheit nicht gewährleistet ist. Beispielsweise kann der Landeshauptmann eine Eilverordnung erlassen, mit der er einzelne Personen oder Unternehmen zu bestimmten Handlungen verpflichtet, wenn die Sicherheit ansonsten nicht gewährleistet ist. Er hat das zum Glück auch bereits getan: Er hat zum Beispiel den Stromversorger der Solland Silicon verpflichtet, die Stromlieferungen aufrecht zu erhalten, obwohl die Solland Silicon die Rechnungen schon längst nicht mehr bezahlt hatte.

Wir haben mittlerweile längst alle verstanden, dass alleine die Aufrechterhaltung der Sicherheit dieser Anlage Unmengen an Geld verschlingt. Die Rede ist von 500.000 Euro im Monat – das Land hat bisher bereits über 20 Millionen Euro allein für die Sicherheit ausgegeben: Alles bezahlt aus öffentlichen Steuermitteln. Ich will in dieser Sache nicht ins Detail gehen – denn dafür haben wir später einen Experten bei uns, der uns erklären wird, was die Agentur für Bevölkerungsschutz und das Landesamt für Zivilschutz im Detail unternehmen.

All das, was ich bis jetzt aufgelistet habe, sind unbestreitbare Fakten: Darüber brauchen wir nicht zu diskutieren. Wir können höchstens noch einigen Fragen detaillierter nachgehen, z.B. was den die damalige Landesregierung dazu gebracht hat, sich einem Pugliese als Retter in die Arme zu werfen. Doch das ist vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt dafür.

Kommen wir also zu der Frage, die für mich persönlich in den vergangenen drei Jahren immer die zentrale war und die ich immer wieder wiederholt habe: Kann die Anlage der Solland Silicon sicher sein? –

Dabei geht es nicht darum, ob eine solche Anlage überhaupt sicher sein kann: wenn alle Sicherheitsauflagen eingehalten, alle Kontrollen durchgeführt und alle notwendigen Investitionen getätigt werden. Es geht darum, ob eine Anlage sicher sein kann, die seit 2011 mehrfach bewiesen hat, dass sie an dieser Stelle nicht funktioniert: die nach der Eröffnung nur wenige Monate produziert hat, weil die Produktionskosten zu hoch und die Produkte auf dem Weltmarkt deshalb zu teuer waren; die schon zwei Mal von weltweit aktiven Konzernen analysiert und dann – zu einem Bruchteil der ursprünglichen Investitionskosten – abgestoßen wurde, weil sie defizitär war und auch keine Aussicht auf Besserung bestand.

Nimmt man alles, was ich soeben geschildert habe, zusammen, dann ist die Antwort auf diese Frage klar. Ich bin kein Chemiker und auch kein Konzernchef. Aber ich will zumindest einen Physiker ins Feld führen, dessen Aussage hier gut passt. Es war Albert Einstein, der gesagt hat: „Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.“

Ich kann verstehen, wenn einzelne Menschen, deren Arbeitsplatz oder deren berufliche Laufbahn auf dem Spiel stehen, das anders sehen. Dennoch kann ich ihnen nicht beipflichten. Ich habe immer wieder und zuletzt auch in meinem Brief an die Minister in Rom darauf hingewiesen, dass die Fortsetzung dieser Bemühungen ein Fehler sind. Ich habe das nicht aus politischem Kalkül gemacht oder weil ich keinen Respekt habe vor einer „italienischen“ Fabrik und ihrer Geschichte, wie mir jetzt teilweise unterstellt wird. Ich habe es gemacht, weil es angesichts der Faktenlage die richtige Entscheidung ist. –

Lassen Sie mich einen Vergleich ziehen: Das Ganze erinnert mich an die Schließung der Kohleförderung im Ruhrpott in Deutschland. Ist es eine einfache Entscheidung, die Kohlebergwerke zu schließen oder die Solland Silicon? Nein, das ist es nicht. Wenn ein großes Unternehmen schließen muss, ist das immer eine Herausforderung, von der viele Menschen betroffen sind.

Doch das macht die Entscheidung nicht weniger richtig oder notwendig. Es ist nicht sinnvoll, eine Fabrik am Leben zu halten, die es seit ihrer Einrichtung nicht geschafft hat profitabel zu arbeiten und die alleine nicht überlebensfähig ist. Es ist vor den Bürgerinnen und Bürgern nicht zu rechtfertigen, dass weiterhin eine solche Unmenge an Steuergeldern für die Sicherheit aufgewendet wird. Und es ist nicht zuletzt unverantwortlich gegenüber den kommenden Generationen von Arbeitern und Politikern, weil dieser schwierige Umbruch und diese schwierige Entscheidung auf sie abgeschoben wird, weil man selbst nicht bereit ist, Verantwortung zu übernehmen.

Als Bürgermeister habe ich jede Menge Kritik einstecken müssen, weil ich mich dieser Verantwortung gestellt und klar ausgesprochen habe, was sich schon seit Jahren abzeichnet. Diesen Preis bin ich bereit zu zahlen. Und so, wie ich mich vor dieser Verantwortung nicht gedrückt habe, werde ich auch nicht vor der Verantwortung zurückschrecken, wenn es nun darum geht, eine nachhaltige und angemessene Zukunft zu finden: für die Arbeiter der ehemaligen Solland Silicon und ihre Familien – sie werden von der Gemeinde ebenso wie vom Land Südtirol die Unterstützung bekommen, die sie verdienen, damit sie diesen umfassenden Einschnitt in ihrem Leben meistern.

Ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um den Arbeitern und ihren Familien eine würdige Zukunft zu bieten. Und ich werde ebenso alles dafür tun, dass die Gewerbezone in Sinich bonifiziert und einer neuen, einer nachhaltigen Nutzung zugeführt wird: als Gewerbegebiet, das innovativen und nachhaltigen Unternehmen eine neue Heimat bietet – und das kann nicht eine Mülldeponie oder eine andere Art von Tätigkeit sein, welche die Umwelt und das Leben der Menschen beeinträchtigt.

Ich bitte alle Mitglieder des Gemeinderats, die die Schwierigkeiten und Herausforderungen erkannt haben und bereit sind, sie gemeinsam anzugehen, darum, diesen Kurs zu unterstützen.

 

Von: mk

Bezirk: Burggrafenamt