Von: apa
Der frühere ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko hält einen raschen Sieg seines Landes im Krieg gegen Russland für möglich. Der Krieg könne bereits nächstes Jahr enden, sagt Juschtschenko im APA-Interview. Seit heuer treffe die ukrainische Armee nämlich auch die Öl- und Gasindustrie, die das Rückgrat der russischen Militärmaschinerie sei. Deren Niederlage werde den kompletten Zerfall “des letzten Kolonialreichs in Europa” zur Folge haben, erwartet der Ex-Präsident.
“Im vergangenen Jahr konnten wir zum ersten Mal das Herz der russischen Wirtschaft treffen”, betont Juschtschenko mit Blick auf die Zerstörung von Ölterminals und Raffinerien. In Dutzenden russischen Regionen gebe es bereits Treibstoffknappheit aufgrund der ukrainischen Angriffe. Weil die wichtigen Öl- und Gaseinnahmen eingebrochen seien, habe Kreml-Chef Wladimir Putin das Budget heuer schon drei Mal revidieren müssen. Zudem erhalte die Ukraine derzeit Lieferungen von Waffengattungen, die ihr von den Verbündeten noch vor zwei Jahren vorenthalten worden waren, etwa im Bereich Artillerie oder gepanzerten Fahrzeugen.
Einsatz von Atomwaffen “wäre der letzte Tag Putins”
Juschtschenko äußerte sich am Rande des Jahrestreffens des Austria Instituts für Europa- und Sicherheitspolitik (AIES), bei dem er am Freitag Spitzenpolitiker und Diplomaten in Wien aufgerufen hatte, keine Angst vor dem Kreml-Chef zu haben. Russland sei nämlich viel schwächer als die Ukraine und ihre Verbündeten. Auch von Nukleardrohungen solle man sich nicht beeindrucken lassen, ergänzt er im APA-Interview. “Der Tag des Einsatzes von Atomwaffen wäre der letzte Tag von Putin und seinem Regime. Es wäre wie bei Hitler, der sich (angesichts der aussichtslosen Lage im Zweiten Weltkrieg, Anm.) in den Kopf geschossen hat.”
Eindrücklich warnt Juschtschenko vor Territorialkonzessionen, um einen Waffenstillstand zu erreichen. Diese Taktik habe sich schon beim Münchner Abkommen mit NS-Diktator Adolf Hitler im Jahr 1938 nicht bewährt. “Europa hat sich damals für eine naive Variante des Friedens entschieden, für einen Frieden mit einem Faschisten. Die Folge war der größte Krieg der Menschheitsgeschichte”, verweist Juschtschenko auf den Zweiten Weltkrieg. Die Ukraine sei derzeit das Schutzschild Europas. Wenn sie falle, müsse Europa es allein mit Russland aufnehmen, betont er. Doch schon jetzt “ist der Krieg mit Russland auch euer Krieg. Wenn die Ukraine Demokratie und Freiheit verliert, kehren wir in die Politik des Mittelalters zurück”.
Putin regiere nur mit Angst, die bei Niederlage verschwinden werde
Putin habe mit seinen militärischen Aktivitäten in verschiedenen Staaten “völlige Inkompetenz” gezeigt, kritisiert Juschtschenko. Länder wie Abchasien, Transnistrien, Armenien oder Syrien seien durch ihr Bündnis mit ihm ins Unglück gestürzt worden. Entsprechend kämpften derzeit auch die unterdrückten Völker der Russischen Föderation an der Seite der Ukraine. Völker wie die Burjaten, Tataren, Baschkiren oder Jakuten würden ihre Selbstbestimmung einfordern, sobald Russland besiegt sein werde. “Das letzte Kolonialreich in Europa muss verschwinden. Ich denke, dass es zur Unabhängigkeit der letzten indigenen Völker in Europa kommen wird, wenn die Ukraine und die Weltgemeinschaft diesen Krieg gewinnen.”
Auch für den russischen Machthaber selbst sieht Juschtschenko keine rosige Zukunft. “Putins Regime wird existieren, so lange in der russischen Gesellschaft Angst herrscht. Wenn er den Krieg verliert, wird diese Angst verschwinden”, erwartet er. Somit führe der Weg Russlands in eine freie Gesellschaft über die militärische Niederlage des Regimes.
Bannerträger der Orangenen Revolution lehnt Präsidentenwahlen in Kriegszeiten ab
Juschtschenko war im Jahr 2004 der Bannerträger der pro-westlichen Orangenen Revolution, die einen Wahlbetrug zugunsten pro-russischer Kräfte vereitelt hatte. Nachdem er einen Giftanschlag im Wahlkampf knapp überlebt hatte, gelangte Juschtschenko infolge einer durch Massendemonstrationen erzwungenen Wahlwiederholung ins Amt.
In den aktuellen Kriegszeiten will Juschtschenko aber nichts von Wahlen wissen. “Wir müssen zuerst den Krieg beenden, und dann können wir darüber reden”, stützt er Präsident Wolodymyr Selenskyj, dessen fünfjährige Amtszeit regulär schon Mitte 2024 ausgelaufen war. Präsidentenwahlen “wären nur eine weitere Möglichkeit für Putin, unser Land zu destabilisieren”, unterstreicht Juschtschenko. “Manche Politiker werden meine starken Ansichten in dieser Frage nicht verstehen. Aber ich sage ihnen: Eure Zeit wird kommen, nachdem wir die größte Herausforderung gemeistert haben werden, und das ist die russische Okkupation”. Außerdem sei auch Putin schon seit 25 Jahre an der Macht, “und es gibt immer noch Leute, die ihn für einen legitimen Präsidenten halten”, merkt Juschtschenko ironisch an.
Gott hätte keine Freude mit der österreichischen Neutralität
Klar positioniert sich der frühere Regierungschef auf die Frage nach einer Neutralität seines Landes. “Das wäre irgendwann im 19. oder 20. Jahrhundert eine Möglichkeit gewesen”, betont er. Während bei seinem Amtsantritt im Jahr 2005 nur sieben Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer für einen NATO-Beitritt gewesen seien, liege der Prozentsatz aktuell bei 85 Prozent. Die pro-europäische und transatlantische Orientierung sei mittlerweile Teil der ukrainischen DNA. “Wenn sie unser Blut testen, werden Sie sehen, dass wir europäisch und Pro-NATO sind”, sagt er augenzwinkernd.
Für die Neutralität Österreichs hat er Verständnis, sieht aber im aktuellen Ringen mit Russland keinen Platz mehr für sie. Russland sei nämlich “das pure Böse” und bedrohe alles, wofür der freie Westen stehe – Menschenrechte, Demokratie und Medienfreiheit. “Es gibt das Gute und es gibt das Böse. Dem Bösen passiv gegenüberzustehen ist nicht, wie man sich verhalten sollte. Dem lieben Gott würde das nicht gefallen. Gott will, dass das Böse zurückgedrängt oder besiegt wird und das Gute gefördert”, unterstreicht Juschtschenko, dessen Vater als sowjetischer Kriegsgefangener im KZ Auschwitz internier gewesen war.
“Wir lieben Österreich”
Gleichwohl bezeichnet der frühere ukrainische Präsident die Alpenrepublik als “Vorbild” für sein Land. Er selbst sei Österreich für sehr vieles dankbar, “mehr als die Menschen gemeinhin wissen”, unterstreicht Juschtschenko. Damit meint er offenbar nicht nur, dass ihm Wiener Ärzte nach dem Dioxin-Anschlag im Jahr 2004 das Leben retteten. Er verweist vielmehr auf die bedeutende Rolle Österreichs für das Überleben der ukrainischen Nation im russischen Zarenreich. So sei das Ukrainische eine von zwölf anerkannten Sprachen in der Donaumonarchie gewesen, zu der auch Teile der heutigen Westukraine gehörten. “Alle Begründer der modernen ukrainischen Literatur und Kultur, die auf Ukrainisch schreiben wollten, fanden in Österreich-Ungarn Zuflucht, während Russland eine tiefgreifende und brutale Russifizierungspolitik in unserem Land betrieb.” Während der 71-Jährige eigene politische Ambitionen unter Verweis auf sein Geburtsdatum zurückweist, will er künftig häufiger nach Wien kommen. “Auf jeden Fall. Wir lieben Österreich.”
(Das Gespräch führte Stefan Vospernik/APA)




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