Von: ka
Bozen – Klimawandel, Wirtschaft, Lebensraum und Chancengerechtigkeit: Zu diesen vier Schwerpunkten stellten sich Landesregierung und Spitzenbeamte den Debatten mit den Bürgerinnen und Bürgern.
Mit jeweils einem Zitat führten die Moderatorinnen und Moderatoren – Karin Gschnitzer, Klaus Egger, Barbara Weis und Manuela Pierotti – am heutigen (5. September) Tag der Autonomie auf dem Silvius-Magnago-Platz in Bozen (LPA hat berichtet) in die vier Gesprächsrunden mit Mitgliedern der Landesregierung und Spitzenbeamten der Landesverwaltung ein: Zwei Stühle in der Runde blieben jeweils für Leute aus dem Publikum frei, die spontan an der Diskussion teilnehmen wollten – “fish bowl” nennt sich diese Form der Diskussion im Fachjargon. Einige Bürgerinnen und Bürger brachten Anregungen ein, die die Abteilungen bearbeiten werden.
Klimawandel: Fokus auf Schaffung des Neuen
Alternativen zu den aktuellen Gewohnheiten braucht es: Darüber waren sich Landeshauptmann Arno Kompatscher, Landesrat Giuliano Vettorato, Martin Vallazza, Direktor des Ressorts für Infrastruktur und Mobilität, und Mariadonata Bancher, Expertin der Agentur für Energie Klimahaus, einig. Uwe Staffler stellte die Frage, wie oft die Wahl auf das Gute mit Blick auf das Beste, das nicht erreichbar sei, fiele. “Eigentlich müsste man” werde oft gesagt oder gedacht, entgegnete Landeshauptmann Kompatscher. “Im Klimaschutz darf das nicht passieren. Wir müssen an die Möglichkeiten aller denken, müssen alle mitnehmen. Und wir brauchen sofort kleine Schritte, um große Dinge zu erreichen”, sagte Kompatscher. Bozen in 50 Jahren? “Wir wissen nicht, welche Entwicklungen folgen. Eines ist sicher: Wir gehen alle Möglichkeiten offen an und sammeln Erfahrungen. Ein Riesenpotential sehe ich im Fahrrad: Ein Drittel der Strecken mit öffentlichen Verkehrsmitteln sind kürzer als 10 Kilometer – ideale Strecken für Radfahrer. Wir möchten gute Rahmenbedingungen schaffen”, sagte Vallazza. Bessere Erfolge als anderswo hätten beispielsweise Initiativen zur Förderung alternativer Energieversorgung deshalb, “weil wir die Leute überzeugen und sie nicht zwingen”, sagte Vettorato. Wäre sie Landeshauptfrau, führte Bancher auf Stafflers Frage aus, würde sie als erstes die Energieeffizienz der Immobilien erhöhen – auch durch neue Finanzinstrumente …; “… die wir in Form von Euregio+ bereits haben und noch ausbauen werden”, fügte Amtsinhaber Kompatscher hinzu. Vor allem die Einheimischen müssten Opfer zum Umweltschutz bringen; Durchreisenden oder Touristen werde zu wenig abverlangt, warf Alex Castellano ein. Kompatscher verwies auf die Bestrebungen, eine Korridormaut und auch eine Maut für besonders verschmutzende Fahrzeuge einzuführen, Vallazza auf die Guest Card. Und Vettorato milderte ab: “Wenn der Bürger überzeugt ist, dass sein Handeln richtig ist, reden wir nicht mehr von Opfern.” Die Tourismusintensität sprach Francesco Rauhe aus dem Publikum an. “Wir haben als einige der wenigen weltweit die Courage, eine Bettenobergrenze einzuführen, wir fördern kleine Strukturen und wir haben erkannt, dass die Menschen auch reinen Gewissens reisen möchten, auf ihren CO2-Abdruck achten. Wir tun etwas für die Umwelt und bleiben so wettbewerbsfähig – darüber herrscht auch bei den Hoteliers Einigkeit”, sagte Kompatscher.
Wirtschaft: Preis versus Wert
Der Blick rein auf die finanziell vorteilhafteste Strategie herrsche in Südtirol nicht vor. “Sonst wären wir nicht, wo wir heute sind. Unsere Wirtschaft hat Werte, die über das Finanzielle hinausgehen”, sagte Landesrat Philipp Achammer. Und Landesrat Arnold Schuler fügte hinzu: “Auch wenn wir in der Landwirtschaft im Vergleich mit anderen Ländern der Welt die höchsten Preise erzielen – für Obst, Wein, aber auch Milch – müssen zwei Drittel der Bauern einen Zu- oder Nebenerwerb ausüben, um bestehen zu können”. “Wir müssen es verhindern, dass die Südtiroler Köpfe abwandern, nicht nur vom Land nach Bozen, sondern erst recht ins Ausland”, sagte Walter Gasser aus dem Publikum. Die Referenten – neben Achammer und Schuler waren das Manuela Defant, Direktorin der Abteilung Wirtschaft, und Manuel Gatto, Direktor des Amtes für Wissenschaft und Forschung – pflichteten dem bei. Die Ausbildungsorte seien in Südtirol auf das ganze Land verteilt – die universitäre Bildung sei eher in der östlichen Landeshälfte angesiedelt, die Ansiedlung von Fachhochschulen in der westlichen Landeshälfte sei “nicht vom Tisch” (Achammer). Es müsse dem Land etwas wert sein, die Einrichtung und den Erhalt von Geschäften in jedem Dorf zu unterstützen. Im bäuerlichen Bereich sei die Erschließung der Höfe ein großer Erfolg gewesen, sagte Schuler. Die geringe Abwanderung aus den Dörfern und von den Höfen sei eine Stärke Südtirols, die es zu erhalten gelte – Stichwort: passende Rahmenbedingungen. Gasser forderte auch Stellungnahmen zu den teils niedrigen Löhnen ein. “Die staatlichen Rahmenverträge entsprechen sicherlich nicht den Lebenshaltungskosten bei uns”, sagte Achammer. Es werde überprüft, welche Möglichkeiten das Land habe, regelnd einzugreifen und einen Ausgleich zu schaffen. Weiteres Thema war der leistbare Wohnraum für alle. Auch hier sehe die Politik den Handlungsbedarf. Johann Rubatscher beklagte, dass auch der Beitrag im geförderten Wohnbau keineswegs im Verhältnis zu den Kosten stehe – ein Thema, das auch in der darauf folgenden Diskussionsrunde zur Sprache kam.
Chancengerechtigkeit: Genug für Bedürfnisse, zu wenig für Gierige
“Eine krisenresistente Gesellschaft muss ins Soziale investieren”, sagte Landesrätin Waltraud Deeg. Alle müssten die selben Chancen haben. “Gleichberechtigung kann nicht von der Politik aufgezwungen werden. Gleichberechtigung ist eine freie Entscheidung”, sagte der einzige Mann in der Runde, Landesrat Massimo Bessone. “Auch in Südtirol ist es noch ein weiter Weg bis zur Anerkennung der Frau. Ich wurde nie offen diskriminiert, aber in Südtirol muss sich noch viel ändern. Wir müssen uns fragen: Wo stärken wir Rollenmuster schon in der Erziehung?”, fragte Edith Ploner, Landesdirektorin der Ladinischen Kindergärten und Schulen, in die Runde. Gleiche Chancen nicht nur für Frauen, sondern für alle Schwachen in der Gesellschaft, forderte Michela Trentini, Direktorin der Abteilung Soziales, ein. Positive Entwicklungen in Sachen Chancengleichheit machte Joachim Kerer aus, der im Publikum saß. Er ist Präsident der Genossenschaft Renovas, welche Menschen mit Beeinträchtigung Arbeit gibt – 80 Prozent seiner Mitarbeiter haben eine anerkannte Invalidität. “Die Sozialklausel in öffentlichen Ausschreibungen gehört mittlerweile zum Standard”, lobte er. Er wünsche sich aber, dass bei Ausschreibungen mehr als nackte Zahlen auch die Art der Arbeit und Interaktion der Mitarbeiter Geltung hätten. Leistbares Wohnen war ein Anliegen von Stefan Graziadei. “In meinem Fall sind zwischen Einreichung des Antrags und Auszahlung drei Jahre vergangen. In dieser Zeit musste ich Zinsen zahlen”, sagte er. Landesrätin Deeg verwies auf die aktuellen Bearbeitungszeiten von 16 bis 17 Monaten. Natürlich sei es das Ziel, die Abläufe zu beschleunigen. Auch sehe sie ein, dass im Vergleich zu früher nur mehr ein kleiner Prozentanteil der Kosten mit Beiträgen gedeckt werde. Auch Karin Gschnitzer beklagte die hohen Wohnungskosten: “Zwei Menschen, die Vollzeit arbeiten, können sich eine Eigentumswohnung in Südtirol nicht mehr leisten – auch in der Peripherie nicht. Das ist wohl mit höheren Beiträgen nicht lösbar.” Die Komplexität dieses Bereichs zeige sich in ganz Europa, antwortete Deeg. Es fehle an Baugrund, was im Gegensatz zum Ziel stehe, so wenig wie möglich Fläche zu versiegeln. “Wir brauchen klare Regeln gegen die Wohnbauzweckentfremdung”, sagte sie. Als Betroffene wurde Eva Rabanser aufs Publikum begleitet. Sie hat eine Sehbeeinträchtigung und bemängelte, dass die Sprachansagen in den öffentlichen Bussen kaum verlässlich seien. “Wird ein falscher Ort an der Haltestelle durchgesagt, führt das zu Verwirrung und ist keine Hilfe”.
Lebensraum erhalten: Die Natur braucht den Mensch nicht
“Wenn wir überleben wollen, müssen wir uns an die Natur anpassen. Es ist klar, dass jeder Einzelne am Zug ist und nicht der Nachbar”, sagte Volkmar Mair, Direktor des Amts für Geologie und Baustoffprüfung. Der Natur sei egal, wer auf dem Planet Erde lebe. Weniger plastisch drückten sich Landesrätin Maria Hochgruber Kuenzer und Landesrat Daniel Alfreider aus. “Kubatur ist Eigentum des Einzelnen, Landschaft gehört allen. Wir brauchen sie und wir müssen bewusst definieren, wo der Raum in unseren Gemeinden ist, der frei bleiben soll”, sagte Hochgruber Kuenzer. Respekt vor der Natur regte auch Alfreider an. Der Erhalt der Landschaft sei die Basis, sagte Virna Bussadori, Direktorin der Abteilung Natur, Landschaft und Raumentwicklung. Bei Änderungen müsse man naturnah vorgehen, Entschädigungen reichten nicht aus. Manfred Donat aus dem Publikum sprach das Thema Aufstiegsanlagen an. Im Laufe der Jahrzehnte seien über 300 Aufstiegsanlagen in Südtirol entstanden, sagte Alfreider. Neue Trassen brauche es nicht, sagte er. Ziel sei es aber, umzudenken und Aufstiegsanlagen als Teil des öffentlichen Nahverkehrs zu denken. Vernetzung und Südtiroltakt hat er sich auf die Fahnen geschrieben. Auf die Bahn auf die Langkofelscharte angesprochen, meinte er, dass die Haltung seiner Ämter dazu klar sei: Auch ein neuer Lift dürfe keine höhere Personenanzahl pro Stunde transportieren als die aktuelle. Stefan Graziadei brachte schließlich das Thema Bikesharing in die fish bowl. “Wir arbeiten daran, möchten aber ein einheitliches Projekt für ganz Südtirol und es in den Südtirol-Pass integrieren”, sagte Alfreider.