Palästinenser strömen in den Norden des Gazastreifens zurück

Israel zieht nach Beginn der Gaza-Waffenruhe Truppen ab

Freitag, 10. Oktober 2025 | 21:49 Uhr

Von: APA/dpa/Reuters/AFP

Die Waffenruhe im Gazastreifen zwischen Israel und der islamistischen Palästinenserorganisation Hamas ist seit Freitag, 11.00 Uhr MESZ (12.00 Uhr mittags Ortszeit) in Kraft. Mit Beginn der Feuerpause beginnt eine 72-stündige Frist bis zur Freilassung der lebenden Geiseln. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu bestätigte in einer Fernsehansprache, dass 20 der aus Israel verschleppten Geiseln am Leben und 28 tot seien.

Netanyahu hofft auf “Tag der nationalen Freude”

Netanyahu äußerte die Hoffnung, dass Israel ab Montagabend “einen Tag der nationalen Freude” nach der Rückkehr aller lebenden und toten Geiseln aus dem Gazastreifen feiern könne. Alle Geiseln würden in den nächsten Tagen zurückkehren. Netanyahu versprach, die Leichen der getöteten Geiseln ein jüdisches Begräbnis zu ermöglichen.

Die israelischen Truppen werden nach den Worten Netanyahus im Gazastreifen bleiben, um Druck auf die Hamas auszuüben, sich zu entwaffnen. “Die Hamas hat dem Abkommen erst zugestimmt, als sie das Schwert an ihrem Hals spürte”, betonte der israelische Premier laut Medienberichten, “und es liegt immer noch an ihrem Hals.” Er fügte hinzu, dass die Hamas dem Abkommen nur zugestimmt habe, als der Plan von US-Präsident Donald Trump sie “auf beispiellose Weise international isoliert” habe.

Israel veröffentliche Liste von freizulassenden Häftlingen

Das israelische Justizministerium veröffentlichte unterdessen am Freitag eine Namensliste von 250 lebenslänglich verurteilten Häftlingen. Sie sollen im Austausch für die im Gazastreifen verbliebenen Geiseln freigelassen werden. In dem am Freitag auf der Website des Ministeriums veröffentlichten Dokument findet man nicht den Namen des populären Palästinenserführers Marwan Barghouti.

Auch weitere hochrangige, wegen Attentaten lebenslänglich verurteilte Palästinenservertreter sind auf der Liste nicht vertreten, darunter Ahmad Saadat, Hassan Salameh und Abbas al-Sayyed. Barghouti war einer der Anführer der zweiten Intifada, des palästinensischen Aufstands in den von Israel besetzten Palästinensergebieten von 2000 bis 2005. Er gilt als einer der populärsten Politiker der Fatah-Partei. Die mit der Fatah rivalisierende islamistische Hamas hatte sich während der Verhandlungen um eine Waffenruhe im Gazastreifen für eine Freilassung Barghoutis eingesetzt. Insgesamt soll Israel laut Vereinbarung mehr als 2.000 palästinensische Häftlinge freilassen.

Hunderttausende Palästinenser strömten an Wohnorte zurück

Infolge der Waffenruhe kehrten indes nach Hamas-Angaben hunderttausende Menschen in den Norden des kriegsversehrten palästinensischen Küstengebiets zurück. Seit die Waffenruhe in Kraft trat, seien “ungefähr 200.000 Menschen” in den Norden gereist, erklärte der Sprecher des Hamas-Zivilschutzes, Mahmud Bassal, der Nachrichtenagentur AFP. Bilder von AFP-Fotografen zeigten tausende Palästinenserinnen und Palästinensern, die sich innerhalb des Küstenstreifens auf den Weg nach Norden gemacht hatten, um in ihre größtenteils zerstörten Häuser zurückzukehren. Die israelische Armee warnte jedoch, dass mehrere Teile des Gazastreifens weiterhin “äußerst gefährlich” seien.

Das israelische Militär rief die Bewohner auf, die von der Armee kontrollierten Gebiete zu meiden. “Halten Sie sich an die Vereinbarung und sorgen Sie für Ihre Sicherheit”, sagte ein Militärsprecher. Die Hamas sei nicht mehr die starke militante Gruppe, deren Überfall auf Israel den zweijährigen Krieg ausgelöst habe. “Die Hamas ist an jedem Ort besiegt worden, an dem wir gegen sie gekämpft haben”, sagte Militärsprecher Effie Defrin vor Journalisten.

Zivilschutz barg Leichen im Gazastreifen

Seit dem Inkrafttreten der Waffenruhe im Gaza-Krieg barg der von der Hamas kontrollierte Zivilschutz im Gazastreifen eigenen Angaben zufolge etliche Leichen. Helfer hätten 81 Tote unter Trümmern hervorgeholt, teilte ein Sprecher der Organisation mit. Demnach wurden allein in der Stadt Gaza die sterblichen Überreste von 73 Palästinensern geborgen.

Es war zunächst unklar, wann genau die Menschen ums Leben kamen. Auch über ihre Identität wurde zunächst nichts bekannt. Laut dem Sprecher könnten noch Tausende Leichen verschüttet sein. Die Angaben ließen sich allesamt zunächst nicht unabhängig verifizieren. Der Gazastreifen ist während des Kriegs großflächig zerstört worden.

UNO fordert Öffnung sämtlicher Grenzübergänge

Die Vereinten Nationen fordern die Öffnung sämtlicher Grenzübergänge in den Gazastreifen, wie Sprecher mehrerer humanitärer UNO-Organisationen in Genf sagten. Darunter sind die Weltgesundheitsorganisation (WHO), das UNO-Kinderhilfswerk UNICEF und das von Israel abgelehnte UNO-Hilfswerk für Palästinenser (UNRWA).

Israel hat die Zusammenarbeit mit dem UNRWA Anfang des Jahres beendet, unter anderem wegen seiner angeblichen Nähe zur Terrororganisation Hamas. Ohne das Netzwerk von 12.000 UNWRA-Mitarbeitern im Gazastreifen, die trotz des israelischen Boykotts dort weiter gearbeitet hätten, gehe es aber nicht, sagte UNRWA-Sprecherin Juliette Touma zu Reportern in Genf. “UNRWA ist weiterhin die größte humanitäre Hilfsorganisation im Gazastreifen”, sagt sie.

Ärzte ohne Grenzen fordern “ungehinderten Fluss humanitärer Hilfe”

Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen fordert nach Beginn der Waffenruhe im Gaza-Krieg eine massive Ausweitung der Einfuhr von Hilfsgütern in den abgesperrten Küstenstreifen. Die israelischen Behörden müssten “einen ausreichenden und ungehinderten Fluss humanitärer Hilfe” ermöglichen, hieß es in einer am Freitagabend veröffentlichten Mitteilung.

Im Gazastreifen bestehe dringender Bedarf an den grundlegendsten Gütern: medizinischer Ausrüstung, Medikamenten, Nahrungsmitteln, Wasser, Treibstoff und angemessenen Unterkünften, hieß es weiter. Die Mehrheit der Menschen sehe ohne Dach über dem Kopf dem nahenden Winter entgegen, mahnte die Hilfsorganisation.

Viele Fragen noch offen

Ein vollständiger Rückzug der israelischen Soldaten aus dem Gazastreifen, den die Hamas fordert, ist laut Trumps Plan erst zu einem späteren Zeitpunkt vorgesehen, wenn eine internationale Stabilisierungstruppe (ISF) für Sicherheit vor Ort sorgt. Auch um eine Entwaffnung der Hamas wird es erst zu einem späteren Zeitpunkt gehen.

Es gibt noch mehrere offene Fragen. Die Hamas hat sich unter anderem nicht dazu bereit erklärt, ihre Waffen abzugeben, so wie es der Friedensplan vorsieht.

Auslöser des Gaza-Kriegs war der Überfall der Hamas und anderer islamistischer Terrorgruppen auf Israel am 7. Oktober 2023. Rund 1.200 Menschen wurden dabei getötet und mehr als 250 als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Israel reagierte seinerseits mit einer Bodenoffensive im Palästinensergebiet. Seitdem wurden laut der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde mehr als 67.000 Palästinenser getötet. Die Zahl unterscheidet nicht zwischen Kämpfern und Zivilisten.

Verletzte bei Siedlerangriffen im Westjordanland

Im Norden des Westjordanlands wurden unterdessen am Freitag bei Angriffen israelischer Siedler nach palästinensischen Angaben Dutzende Menschen verletzt. Laut dem palästinensischen Gesundheitsministerium in Ramallah wurden insgesamt 36 Palästinenser behandelt. Siedler hätten in mehreren Ortschaften in der Nähe der Stadt Nablus Menschen bei der Olivenernte angegriffen, berichteten palästinensische Medien. Israels Armee sagte auf Anfrage, sie gehe den Berichten nach.

AFP-Journalist verletzt

Bei dem Angriff wurde auch ein Fotograf der Nachrichtenagentur AFP verletzt. Der Fotograf Jaafar Ashtiyeh berichtete nach eigenen Angaben über die Olivenernte in dem palästinensischen Dorf Beita südlich von Nablus, als kurz nach Mittag rund 70 mit Stöcken und Steinen bewaffnete Siedler die Olivenpflücker und anwesende Journalisten attackierten. “Wenn ich nicht hätte fliehen können, hätten sie mich getötet”, erklärte Ashtiyeh, der von mehreren Steinen an Rücken, Arm und Hand getroffen wurde.

Sein Auto, das in einigem Abstand zu der Olivenplantage geparkt war, wurde laut Ashtiyeh von den Angreifern mit Steinen beworfen und anschließend in Brand gesetzt. Laut dem Fotografen waren auch israelische Soldaten vor Ort, verhinderten den Angriff jedoch nicht. Stattdessen hätten die Soldaten mit Gummigeschossen und Tränengas auf die palästinensischen Olivenpflücker und Aktivisten gefeuert, um diese zu vertreiben.

Die AFP äußerte sich schockiert über den Vorfall. “Wir verurteilen diesen ungeheuerlichen Angriff aufs Schärfste”, erklärte AFP-Chefredakteur Mehdi Lebouachera. Der Vorfall verdeutliche die “zunehmend gefährlichen Arbeitsbedingungen für unsere Journalisten im Westjordanland”. “Wir fordern das israelische Militär nachdrücklich auf, nicht nur den Schutz von Journalisten bei ihrer Arbeit zu gewährleisten, sondern auch dafür zu sorgen, dass die Täter vor Gericht gebracht werden”, fügte Lebouachera hinzu. Die israelische Armee reagierte zunächst nicht auf eine Bitte um Stellungnahme durch die AFP.

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