Von: apa
“Achtung, es kann anders kommen!” Das ist die zentrale Botschaft der 102-jährigen Melanie Berger-Volle an die Jugend. Als 15-Jährige begann sie sich im Roten Wien politisch zu engagieren, als 16-Jährige hörte sie Adolf Hitlers Rede am Wiener Heldenplatz (“Er hat aber mehr geschrien als geredet.”) und wusste sofort, dass ein Krieg die Folge sein werde. Am Freitagvormittag stand die in Frankreich lebende Widerstandskämpferin auf dem Altan der Hofburg – und war tief bewegt.
“Ich bin erstaunt, ich bin ja kein Star!” So kommentierte die in Begleitung des deutschen Journalisten Nils Klawitter erschienene rüstige alte Dame schmunzelnd das große Medieninteresse, das ihr bei ihrem vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes mitorganisierten Wien-Besuch entgegengebracht wird. Klawitter hat ihre abenteuerliche Überlebensgeschichte in einem Buch festgehalten, das heute Abend (18.30 Uhr) im Haus der Geschichte Österreich präsentiert wird. “Die kleine Sache Widerstand. Wie Melanie Berger den Nazis entkam” (Czernin Verlag) lässt die 1930er und 1940er-Jahre wieder lebendig werden und bringt gleichzeitig immer wieder die Gegenwart ins Spiel, in der die heute in einer Seniorenresidenz in Saint-Étienne Lebende als Zeitzeugin ihre Erfahrungen und Warnungen weitergibt oder Schauplätze ihres Lebens wieder besucht.
“Ich habe vor sechs Jahren für ein Porträt im ‘Spiegel’-Sonderheft zum Thema Widerstand Frau Berger zwei Tage lang besucht. Ich hatte aber rasch das Gefühl: In diesem Leben ist mehr drin, als auf fünf Magazinseiten passt. Wir haben uns dann mehrfach getroffen, in Marseille, Toulouse und Wien und ich dachte: Wenn Du irgendwann mal ein Buch schreiben willst, dann das”, erzählte Klawitter im Gespräch mit der APA. Die titelgebende bloß “kleine Sache”, für die sie laut eigener Aussage als Mitglied der Résistance verantwortlich war, entpuppt sich bei der Lektüre als mutiges Einschreiten gegen tief empfundene Ungerechtigkeiten, für die die junge Frau beinahe mit dem Leben bezahlte.
Die Flucht aus Österreich als doppelt gefährdete Jüdin und Kommunistin, ihr Untertauchen in Frankreich, ihre Weltanschauung, die sie auch in Konflikt mit dem Stalinismus brachte (“Die Diktatur des Proletariats hat mir nicht gefallen. Ich wollte eine Demokratie!”) – all das ringt einem bei der Lektüre tiefe Bewunderung ab. In der persönlichen Begegnung kontrastiert diese abenteuerliche Lebensgeschichte, die 1943 in Marseille in einer filmreifen Fluchtaktion aus dem Gefängnis kulminierte, bei der sie von als Gestapo-Kommando verkleideten anderen Widerstandskämpfern ihrer Gruppe befreit wurde, mit einer beeindruckenden Bescheidenheit. Sie habe bei ihrem sozialen und politischen Engagement bloß auf ihre innere Stimme gehört: “Ich war entrüstet, dass es reiche Menschen gibt und Menschen, die Hunger und keine Arbeit haben, dass es also keine Solidarität gibt.”
Auf dem einmal als Schülerin bei konspirativen Treffen der Revolutionären Kommunisten auf den Nacktbadestränden der Lobau begonnenen Weg gab es kein Zurück. Jugend ist keine Ausrede für mangelndes Engagement, ist sich Berger-Volle sicher: “Gerade weil ich jung war, dachte ich: Ich muss anfangen, die Welt zu verändern.” Nachsatz: “Ich will sie immer noch ändern – aber das ist in meinem Alter nicht mehr so einfach.” Was rät sie den jungen Leuten von heute, die sich als “Letzte Generation” begreifen und bei ihren verzweifelten Versuchen, Aufmerksamkeit zu erringen, kein Gehör finden? “Es hat sich alles derartig geändert seit der Zeit, als wir demonstrierten. Man muss andere Methoden finden, aber das muss die Jugend selbst herausfinden. Ich kann euch nicht sagen, was ihr machen sollt. Aber ich kann euch sagen: Denkt nach, wie ihr leben wollt – in einer Diktatur oder in einer Demokratie?”
Melanie Berger-Volle zieht im APA-Interview eine erstaunlich zufriedene Lebensbilanz: “Ich kann sagen, dass ich das Glück hatte in meinem Leben, immer das zu machen, was ich wollte.” Dazu gehört auch, dass sie nach dem Krieg zwar in ihre Geburtsstadt Wien zurückgekehrt, schließlich aber an der Seite des Journalisten Lucien Volle wieder nach Frankreich gegangen ist. Mit verantwortlich waren ihre Erlebnisse 1938 in Wien, wie die “Reibepartien”, zu denen jüdische Bürger von ihren langjährigen Nachbarn gezwungen wurden, oder andere Exzesse. “Diese Dinge konnte ich nicht vergessen.” Doch heute gebe es auch in Österreich “sehr viele, die etwas tun”. Diese wolle sie in ihrer Arbeit und ihrer Wachsamkeit gegenüber bedenklichen Entwicklungen bestärken: “Ich will nur sagen: Achtung, es kann anders kommen!”
In Saint-Étienne erregte sie kürzlich als älteste Teilnehmerin am Olympischen Fackellauf Aufsehen. “Ich war dabei ja weniger eine Läuferin als eine Geherin”, schmunzelt sie. “Ich wollte aber die Fackel nicht einfach nur tragen, sondern ich wollte sie älteren Menschen bringen. Es gibt in Saint-Étienne ein Heim für ältere Personen, von denen die meisten nicht mehr selbst auf die Straße gehen können. Mit der Fackel habe ich ihnen so viel Freude gebracht – und gleichzeitig hab ich daran selbst Freude gehabt. Viele Gespräche waren die Folge – und viele dort haben sich gewundert, dass ich älter bin als die meisten von ihnen.” Am 8. Oktober feiert Melanie Berger-Volle ihren 103. Geburtstag.
(S E R V I C E – Nils Klawitter: “Die kleine Sache Widerstand. Wie Melanie Berger den Nazis entkam”, Czernin Verlag, 160 Seiten, 22 Euro; Buchpräsentation heute, Freitag, 18.30 Uhr, im Foyer im Haus der Geschichte Österreich, Neue Hofburg, Heldenplatz)
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