Von: mk
Bozen – Die rückläufigen Reallöhne von Arbeitnehmenden in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst sind volkswirtschaftlich kontraproduktiv, zumal dem Wirtschaftskreislauf Massenkaufkraft entzogen wird. Dieses Argument bringt das Arbeitsförderungsinstitut AFI vor. Für 2026 gelte es, verstärkt den Blick auf die Niedriglohnbezieher zu richten und zu verstehen, wie man den Lohnantrieb in den klassischen Niedriglohnbranchen begünstigen könne.
Die Daten, die das Landesinstitut für Statistik im Laufe dieser Woche veröffentlicht hat, sind für das AFI | Arbeitsförderungsinstitut Bestätigung und Zusatzinformation zugleich. Die zentrale Aussage: Die Reallöhne von Arbeitnehmenden in Südtirol sind in den letzten Jahren zurückgegangen. Für die Privatwirt-schaft wird ein Reallohnverlust von -8,5 Prozent im Zehnjahreszeitraum festgemacht, im öffentlichen Dienst sind es -4,5 Prozent in fünf Jahren.
Reallohnverluste universell
Wie AFI-Direktor Stefan Perini unterstreicht, ziehe sich diese Entwicklung quer durch alle Altersklassen, Qualifikationsebenen und Vertragsarten. „Von Reallohnverlusten blieb also keine Kategorie verschont – die einen traf es weniger, die anderen mehr.“ Zu den Spannbreiten: Die Reallohnverluste in der Privatwirtschaft gehen von -8,6 Prozent bei den Unter-30-Jährigen bis -7,2 Prozent bei den 30 bis 40-Jährigen. Auch aufgeschlüsselt nach Berufsgruppen gibt es kleinere und größere Verlierer: Die realen Lohneinbußen reichen von – 1,2 Prozent bei den Führungskräften bis – 8,5 Prozent bei Angestellten.
Eine weitere Erkenntnis: Die Kluft zwischen Nominal- und Reallohn ist vor allem in der jüngeren Vergangenheit entstanden – genaugenommen in den Jahren der Rekordinflation 2022 und 2023, auf welche dann keine deutlichen Zuwächse der Nominallöhne gefolgt sind – trotz Fachkräftemangel und einer theoretisch stärkeren Verhandlungsposition von Seiten der Arbeitnehmenden.
Die drei größten Kollektivverträge als Taktgeber
Der Wildwuchs an Kollektivverträgen, der Italien charakterisiert, macht natürlich vor den Toren Südtirols nicht halt. Doch, wie ebenfalls aus der ASTAT-Mitteilung hervorgeht, kristallisieren sich drei Kollektivverträge heraus, die für die Privatwirtschaft als Taktgeber angesehen werden können. Laut NISF-Datenbank liegt bei 60.597 lohnabhängig Beschäftigten der Kollektivvertrag Tourismus zugrunde, 51.734 haben den Kollektivvertrag Handel und 26.420 arbeiten mit Tarifvertrag Metall. Diese drei Kollektivverträge alleine umschließen bereits zwei Drittel der lohnabhängigen Beschäftigung der Südtiroler Privatwirtschaft (219.578 Personen). Was die Zahlen noch belegen: Auch Beschäftigte mit diesen „Leitkollektivverträgen“ mussten deutliche Reallohnverluste im Zehnjahreszeitraum hinnehmen: -7,5 Prozent sind es im Tourismus, -6,5 Prozent im Handel, -5,3 Prozent im Bereich Metall.
Der (noch fehlende) Blick auf die Niedriglohnbranchen
Wie aus einer früheren ASTAT-Kurzstudie hervorgeht, verdient jeder achte Arbeitnehmende in der Südtiroler Privatwirtschaft nicht einmal neun Euro brutto die Stunde. Dies führt zum sogenannten Phänomen der „working poor“. Damit werden Personen bezeichnet, die trotz eines Vollzeitjobs in einer Situation von relativer Armut verweilen. Als Problembranchen identifiziert die Fachliteratur die Bereiche Pflege, Küche, Abfallwirtschaft und Reinigung. Dazu AFI-Direktor Stefan Perini: „Von unseren Stakeholdern haben wir den Auftrag erhalten, uns 2026 näher mit diesen Niedriglohnbeziehern zu befassen und vor allem auch die Niedriglohnbranchen näher in den Blick zu nehmen.“ In einigen Fällen sei die öffentliche Hand auch selbst Mitverursacher dieser Situation: Durch übertriebene Preisabschläge bei öffentlichen Vergaben würde die Billiglohnpolitik noch zusätzlich genährt.
AFI-Präsident Stefano Mellarini erklärt: „Was wir hier vor uns haben, ist kein Problem einzelner Kategorien, sondern eine Frage, die uns alle betrifft. Die Daten sprechen eine klare Sprache: Der Rückgang der Reallöhne trifft alle abhängig Beschäftigten – unabhängig von Alter, Qualifikation oder Kollektivvertrag. Es handelt sich um eine übergreifende Entwicklung, die die Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit unseres Wirtschaftssystems infrage stellt. Deshalb reichen partielle Maßnahmen oder sektorale Eingriffe nicht aus: Es braucht eine strukturelle, systemische Antwort, die der Arbeit wieder ihren Wert und den Löhnen ihre Würde zurückgibt.“




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