Heute an einem Strang ziehen – ein Kommentar

100 Jahre Zerreißung Corona-Tirols

Donnerstag, 15. Oktober 2020 | 09:37 Uhr

Bozen/Innsbruck/Trient – Das Gedenken an der hundertjährigen Zerreißung Tirols am 10. Oktober 2020 ist trotz vieler Ankündigungen und Bergfeuer im Hin und Her zwischen Bozen und Rom um die neuen Corona-Einschränkungen fast untergegangen. Das ist auch keine Überraschung. Den von Zukunftsängsten geplagten Tirolern beiderseits der „Unrechtsgrenze“, die Reisewarnungen und neue Einschränkungen hinnehmen müssen, ist wichtiger, was die nächsten Wochen und Monate bringen werden, als einer längst vergangenen Teilung des Landes zu gedenken.

© SSB/Richard Andergassen

Aber das ist nicht der einzige Grund. Nord- und Südtiroler, die seit 100 Jahren getrennte Wege gehen, haben sich trotz der edlen Bemühungen vieler längst auseinandergelebt. Die Corona-Notlage, bei der nicht zuletzt um Grenzschließungen geht, scheint diesen traurigen Vorgang noch einmal beschleunigt zu haben. Während nördliche „Schlaumeier“ im Gegensatz zu früher gezeigt haben, dass ihnen im Notfall das eigene Hemd am nächsten ist, freut sich manch Südtiroler hämisch über die gegen Nordtirol ausgesprochene deutsche Reisewarnung. Letztere dürfte aber sehr bald selbst über Südtirol verhängt werden.

In jedem Fall hat die Geschichte aber jene, die am Selbstbehauptungswillen der Südtiroler gezweifelt hatten, Lügen gestraft. Die symbolhafte Brennergrenze, die bis Corona sehr durchlässig gewesen ist und nach Corona wieder durchlässig sein wird, hat längst ihren Schrecken verloren. Die Südtiroler, die die leidvolle Erfahrung gemacht haben, dass „Selbstbestimmung“ bereits an der Gemeindegrenze oder gar 200 Meter vor dem eigenen Haus enden kann, wollen in ihrer übergroßen Mehrheit keine ferne Vergangenheit mehr beklagen, sondern endlich wieder frohen Mutes in die Zukunft blicken.

APA/EXPA/JOHANN GRODER

Die Vorgänge der letzten Monate haben einmal mehr gezeigt, dass nur ein gemeinsames Haus Europa Wohlstand und Fortschritt sichern und dem Virus und seinen wirtschaftlichen und sozialen Folgen erfolgreich begegnen kann.

Altlasten, von denen Europa voll ist, sind dabei nur im Weg. Die Zerreißung Tirols wird am besten überwunden, indem im heutigen Corona-Tirol die Notlage gemeinsam angegangen wird. Denn können die heutigen Teile des historischen Tirols nicht in der Not an einem gemeinsamen Strang ziehen, hat auch das Gedenken an die Teilung des Landes keinen Sinn mehr.

Von: ka

Bezirk: Bozen