Südtirol als Vorzeigeregion Italiens

20 Jahre Europäische Allianz gegen Depression in Südtirol

Donnerstag, 22. Juni 2023 | 07:01 Uhr

Bozen – Die Europäische Allianz gegen Depression in Südtirol gibt es seit 20 Jahren. Sie versteht sich als Bollwerk gegen die häufigste schwere Erkrankunge des Gehirns. Die Entwicklung verlief dabei nicht immer geradlinig.

„Von 2000 bis 2009 wurden alle Suizide Südtirols einer psychologischen Autopsie unterzogen, das heißt, wir unternahmen aufwändige Nachuntersuchungen, befragten Hinterbliebene und Hausärzte, und rekonstruierten die Lebens- und Sterbensumstände der Menschen, die von eigener Hand zu Tode kamen“, erklärt Roger Pycha, Primar vom psychiatrischen Dienst in Brixen.

Das erste Zwischenergebnis erhielten die Ärzte im Jahr 2002. Rund 50 Prozent aller Opfer hatten an Depressionen gelitten. „Wenn man alle depressiv Erkrankten rechtzeitig erreicht, behandelt, gebessert und geheilt hätte, hätte man Südtirols extrem hohe Suizidrate sofort halbieren können. Das war uns Ansporn genug“, resümiert Pycha.

Eine beherzte Gruppe Psychiater trat einem europaweiten Projekt zur psychischen Gesundheit bei, das von 2004 bis 2008 zu einem Drittel mit Geld aus Brüssel finanziert würde. Wenn nur die jeweiligen regionalen Verwaltungen den ganzen größeren Rest beisteuerten.

Es war die Zeit von Otto Saurer, der dem damals größten Vorhaben zur psychischen Gesundheit in Europa sofort grünes Licht gab. Das Gesundheitsressort kümmerte sich darum, dass Südtirol eine von 16 Modellregionen Europas wurde, und gleichzeitig die Vorzeigeregion Italiens. Sie ist es bis heute geblieben. Die Schweiz war damals bereits „außereuropäisch“, erkannte aber den Nutzen des Projekts und beteiligte sich als siebzehnter Staat mit gleich zwei Modellregionen, Bern und Zug. Es kristallisierte sich nämlich heraus, dass die Depression bis 2020 die wichtigste und damit auch teuerste aller Krankheiten weltweit für Frauen werden würde – und dass dagegen dringend etwas zu unternehmen sei. „Die Schweizer sind eben pragmatisch und riechen den Erfolg“, so Pycha.

In Südtirol ging es ähnlich. Auf vier Ebenen, mit Schulung der Fachleute und Multiplikatoren, Angeboten für Risikogruppen und Öffentlichkeitsarbeit, gelang eine großartige Sensibilisierungsarbeit. Die Schirmherren des Ganzen waren Reinhold Messner, Silvius Magnago, Gustav Thöni und Antonella Bellutti. Die Wanderausstellung moderner Kunst „Das erschöpfte Selbst“ gastierte in den Krankenhäusern von Bruneck, Brixen und Meran je zwei Monate.

In Bozen liefen die Uhren anders, da wollte die Verwaltung die provokanten Werke entfernen lassen, hatte aber keine Erlaubnis dazu. Da fünf Assessorate (Gesundheit, Soziales, und drei Kulturassessorate) die Initiative betrieben, und die beherzte Kuratorin Sabine Gamper die Entfernung der Werke untersagte, wurden sie viele Tage lang verhüllt. Bis sie in ein Magazin und anschließend nach Meran konnten.

Da war aber die Diskussion, ob die „Depression“ im Bozner Krankenhaus exklusiv keinen Platz haben sollte, längst entbrannt. Neun Südtiroler Gemeinden aller drei Sprachzonen beteiligten sich an gratis Plakataktionen, immer im Frühling und Herbst, wenn die Depression am stärksten wird. „Wir führten den 1. Oktober als Europäischen Tag der Depression erfolgreich in Südtirol ein – mit Infoständen in den Krankenhäusern und kulturellen Ereignissen wie Konzerten, Lesungen, Ausstellungen, vor allem aber konzentrierter Sensibilisierung durch die Medien“, so Pacha. Nach fünf Jahren war die Depression als Erkrankung jedem bekannt und „in Südtirol salonfähig geworden“, wie es ein Betroffener griffig beschrieb.

Die schwierige Zeit kam danach. Das europäische Geld versiegte, damit stellte auch das Assessorat seine Finanzierung ein. Zusammen mit Josef Schwitzer, Psychiatrieprimar in Brixen, bemühte sich Pycha, ein zentrales Geflecht aus den Psychiatrien, interessierten Hausärzten, Telefonberatungsstellen und Selbsthilfeorganisationen weiter in den Dienst der großen Sache zu stellen – mit viel Freiwilligeneinsatz, weil das Ziel zu wichtig war, um vergessen zu werden und offenbar zu teuer, um bezahlt zu werden.

„Manchmal schaut man eben auf den Preis statt auf den Wert. Wir mussten regelrecht alles neu erfinden und uns auf das Wesentliche konzentrieren. Das war die unablässige Aufklärung der Bevölkerung. Und wir mussten Organisationsformen finden, die mit wenig Aufwand viel erreichten: Netzwerke eben. Wir gründeten ein Netzwerk zur Verhütung schwerer suizidaler Krisen und ein Netzwerk zur psychischen Gesundheit am Arbeitsplatz. Beide waren bescheiden und lebten vom Volontariat. Gedenktage wie den Welttag der Suizidprävention – immer 10. September – gestalteten wir möglichst kreativ und billig zugleich“, so Pycha.

Er selbst hat seitdem um die 200 Vortragsabende in Südtiroler Dörfern und Städten gehalten, immer unentgeltlich und meistens zusammen mit einem Betroffenen, der von sich selbst berichtete. Auf eigene Kosten druckte man die zweisprachige Broschüre „Depression-Was tun?“. Sie ist 2020 neu aufgelegt worden, diesmal gesponsort von Rotary. Auch die „Notfallkärtchen“ mit den Nummern der Kummertelefone von Telefonseelsorge, telefono amico und young and direct darauf verteilte man in 30.000-facher Auflage und druckte sie regelmäßig nach, zuletzt wieder durch alle Rotarier Südtirols finanziert.

Aber das war dann schon längst wieder die gute neue Zeit, als man deren Zeichen endlich verstand. Es war Barbara Pizzinini, die große Sozialpionierin Südtirols, die 2017 erklärte, sie wolle die Europäische Allianz gegen Depression in Südtirol reaktivieren und einiges in sie investieren. Der neue Sitz des Netzwerks wurde das Haus EOS in Rentsch, das leider nur zwei Jahre lang existierte. Die neuen Koordinatoren wurden Sabine Cagol inhaltlich und Ulrich Seitz administrativ. Damit brach ein Aktivitätssturm über die vorher kleine Gruppe herein.

Die Allianz beteiligte sich aktiv an der Gründung des Netzwerks Suizidprävention, das von der Caritas 2017 auf Martha Stockers intensives Betreiben ins Leben gerufen wurde. „Wir organisierten zwei Jahre lang internationale Kongresse wie ‚Suizidprävention im Alpenraum – Wie überleben unsere Jugendlichen?‘ und luden gezielt dazu die Schulen ein. Wir luden immer am 10. September die Medien ins Haus EOS, gründeten mit ihnen den europaweiten Pakt ‚Media help survive‘, in dem sie sich schriftlich verpflichteten, im Bedarfsfall sofort suizidpräventiv tätig zu werden. Und wir verhandelten mit Albin Kofler, dem sozial hoch engagierten Bezirksgemeinschaftspräsidenten von Salten-Schlern“, erinnert sich Pycha.

Das war kein Zufall. Das Landesstatistikinstitut ASTAT hatte eine Siebenjahresstatistik erarbeitet, der zufolge in dieser Bezirksgemeinschaft die Suizidrate deutlich zugenommen hatte. Als Ergebnis dieser sehr fruchtbaren Zusammenarbeit entstand das Projekt „Gesunde Gemeinde – gesunde Psyche“, mit 26 Vorträgen zur psychischen Gesundheit in 18 Monaten. „Nach dem elften Abend zwang uns die Corona-Krise zum vorzeitigen Ende, aber das Echo war enorm. Im späten 2020 versuchten wir eine Wiederaufnahme mit drei weiteren Veranstaltungen, aber es kam erneut zur sozialen Isolation, die alles vereitelte“, so Pycha.

Zwischenzeitig gab es das Haus Eos nicht mehr und die Europäische Allianz gegen Depression wurde vom Südtiroler Gesundheitsbetrieb übernommen. Inzwischen hatte dessen neue Führungsspitze klar erkannt, dass sich das Land gegen die wichtigste Krankheit der Welt selbst schützen sollte. Mit Primar Markus Huber von der Psychiatrie Bruneck als Stellvertreter übernahm Pycha wieder die Koordinierung dieses Netzwerks und konnte die guten Beziehungen zu den Medien bestens verwenden, als in der ersten Juniwoche 2020 die höchste Häufung an Suiziden beobachtet wurde, die sich je in Südtirol ereignet hatte.

Da wirkte „Media help survive“ kleine Wunder, geschlossen und eifersuchtslos berichteten Südtirols Medien von einer so genannten „Ermöglichungsgeschichte“. Richard Santifaller erklärte darin, wie er suizidal wurde, was und wer ihm geholfen hatte und wie er sich auch selbst beistehen konnte. In der Folgewoche sank die Suizidhäufigkeit auf ein Sechstel.

Inzwischen hat eine nordamerikanisch-englische Studie an 15.000 Menschen erbracht, dass Suizidgedanken am häufigsten im Winter entstehen, dass man sich Monate lang dagegen wehrt, aber dieser Widerstand bis zum Frühsommer häufig zusammenbricht. Deshalb ist Wachsamkeit auch jetzt geboten. Die Europäische Allianz gegen Depression in Südtirol pflegt sie seit 20 Jahren.

Von: mk

Bezirk: Bozen