Von: ka
Bozen – Die letzte Zeit, in der nicht weniger als Allerheiligen, die hundertjährige Wiederkehr des Endes des Ersten Weltkriegs und die Landtagswahlen mit all ihren bedeutsamen politischen Auswirkungen zusammenfallen, hat es wirklich in sich. Aber die wirkliche Zäsur der Geschichte Südtirols ist der 4. November vor 100 Jahren.
Während das offizielle Italien an diesem Jahrestag der Toten des Ersten Weltkriegs gedenkt und mehr oder weniger leise einen vermeintlichen Sieg feiert, steht in Südtirol vielerorts die Erinnerung an das Auseinanderreißen des historischen Tirols im Vordergrund. So sehr sie aber auch der eigenen Sichtweise entsprechen mögen, so blenden jedoch beide Seiten das Empfinden der damaligen Bevölkerung aus.
Im Tirol des Jahres 1918 ging es fast nur mehr ums blanke Überleben. Nachdem Zehntausende von Männern – darunter auch der Urgroßvater des Schreibers dieser Zeilen – an allen Fronten des Habsburgerreichs gefallen waren, kämpften deren Witwen für ihre Kinder in erster Linie gegen den Hungertod. Hunger, Seuchen und auch der Krieg, der seit drei Jahren auch an Tirols Südgrenze tobte, forderten eine Unzahl von Toten. Die einfachen, von der Sehnsucht nach Frieden getriebenen Tiroler erlebten das Ende des Ersten Weltkriegs vor allem als Befreiung von den Schrecken der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“.
Die einfachen Zivilisten und Soldaten auf der anderen Seite der Schützengräben empfanden genau dasselbe. Nach drei Jahren Krieg war Italien verarmt, ausgelaugt und – passend zur heutigen Lage – hoch verschuldet. Hunderttausende Italiener hatten in einem Krieg, der gegen den Willen der Mehrheit des Landes von einigen Wenigen mutwillig losgetreten worden war, ihr Leben verloren.
Aber es war nicht vorbei. Nach der Grenzziehung am Brenner ging Südtirol über Jahrzehnte durch ein fortwährendes Stahlbad aus gewaltsamer Assimilierung, Faschismus, Option, Nationalsozialismus und dem erneuten Ende eines noch schrecklicheren Weltkrieges. Erst der Pariser Vertrag und die über mehrere Jahrzehnte hindurch erkämpfte Autonomie schufen die Grundlage für das Überleben der deutsch- und ladinischsprachigen Südtiroler im Staate Italien.
Heute, fast ein halbes Jahrhundert nach dem Inkrafttreten des Zweiten Autonomiestatuts, geht es darum für alle hier lebenden Bürger, gleich ob Deutsche, Italiener oder Ladiner, eine gedeihliche Zukunft zu schaffen. Das sehen in ihrer übergroßen Mehrheit auch die Südtiroler so. Jene, die die Zukunft in der Vergangenheit suchen, wurden am 21. Oktober vom Wähler abgestraft.
Hundert Jahre nach dem 4. November 2018 steht Südtirol prächtig da. Die letzten 100 Jahre, die Südtirol für immer verändert haben, haben im Herzen Europas ein einzigartiges, spannendes Land und einen heute friedlichen Begegnungsort zweier Kulturen geschaffen. Gedenken wir der Toten beider Seiten, dem Ende des Leids, betrachten wir das heutige Südtirol als Chance und bauen wir, wie es unser Bischof Muser in seinem Hirtenbrief beschreibt, Brücken für den Frieden zu den anderen Menschen im Land: „Selig, die Frieden stiften.“