Von: mk
Meran – Hubert Indra ist seit Jahrzehnten einer der bekanntesten Leichtathleten Südtirols. Noch heute ist der Zehnkämpfer in der Altersklasse M60 Weltrekordhalter. Seinen wichtigsten Kampf hat Indra aber außerhalb der Stadien geschlagen.
Alles begann mit einer schmerzhaften Stelle an der Zunge
Hubert Indra dachte zuerst an eine aufgescheuerte Stelle. Doch der Schmerz wollte nicht verschwinden und irgendwann beschloss er, den Grund von einem Arzt abklären zu lassen. Beim Termin in der Hals-Nasen-Ohren-Abteilung im Krankenhaus Meran – bei der der Sportler mehrere Mal gefragt wurde, ob er rauche, was er verwundert verneinte – wurde dann eine Gewebeprobe entnommen, um jeden Verdacht auszuschließen.
Wenige Tage später wurde Indra ins Krankenhaus beordert, wo ihm die Ärzte eröffneten, dass die Ursache des Schmerzes ein Tumor an der Zunge war. Eine Operation sei unabwendbar. „Natürlich war ich zuerst in einem Schockzustand und der kalte Schweiß brach mir aus“, beschreibt Indra diesen Moment heute, „aber dann habe ich sofort an meine Sportlerkarriere gedacht und meine erste Frage an die Ärzte war: Wann kann ich danach wieder mit meinem Training beginnen?“, erzählt er schmunzelnd.
Indra, als Sportler gewohnt, Situationen zu analysieren, zu bewerten und dann eine rasche Entscheidung zu treffen, tat in diesem Moment genau das: Es gibt ein Problem, das Problem muss beseitigt werden, wie kann das am besten geschehen und wie geht es anschließend weiter?
Pläne müssen verworfen werden
Diese pragmatische Herangehensweise zeichnet Indra bereits in jungen Jahren aus. Der Vater stirbt, als Indra erst 19 Jahre alt ist. Mit der Zusage der Sportgruppe der Carabinieri in Bologna bereits in der Tasche, ändert er seine Pläne und übernimmt den Ofensetz-Betrieb des Vaters. Gleichzeitig übernimmt der Jungspund auch die Fischerei, die sein Vater betreut hatte und damit auch alle Arbeiten, die damit zusammenhängen und anfallen.
Der Traum, als Profisportler bei den Carabinieri unterzukommen, ist damit geplatzt. „Vielleicht war das aber auch gut so“, resümiert Indra heute, „zum einen sind die Erwartungen und der Druck gegenüber einem Profisportler viel höher und zum anderen habe ich mir aus Trotz gesagt: Jetzt erst recht! – und habe neben meiner Arbeit hart weitertrainiert.“
Die Fischerei wird jedenfalls neben der Leichtathletik die zweite große Leidenschaft des Lananers. Und auch in diesem Bereich entwickelt er sportlichen Ehrgeiz und entdeckt für sich das Fliegenfischen. Indra: „Für mich ist es die fairste und sportlichste Art des Fischens – und die sanfteste für den Fisch.“ Indra trägt in den darauffolgenden Jahren nicht nur dazu bei, das Fliegenfischen in Südtirol populär zu machen, sondern engagiert sich als Funktionär im Fischereiverband tatkräftig für die Weiterentwicklung der Fischerei in Südtirol.
“So schnell wie möglich in Sicherheit bringen”
Bereits beim ersten Termin in der HNO-Abteilung in Meran hatten die Ärzte detailliert aufgezeichnet, welcher Teil der Zunge entfernt werden müsste. Indra entschied sich, den Eingriff so schnell wie möglich vornehmen zu lassen: „Ich wollte keine Zeit verlieren, sondern das Problem so schnell wie möglich angehen. Mir war klar: Da kommt eine Lawine auf mich zu und ich muss mich so schnell wie möglich in Sicherheit bringen. Je länger ich warte, umso gefährlicher wird es für mich. Und wenn ich zu lange warte, sterbe ich.“ Und: “Ich habe den Ärzten von Anfang an vertraut und nie an ihrer Einschätzung oder Vorgehensweise gezweifelt. Mein Gedanke war: Das sind Profis, die wissen, was zu tun ist.“
Ende Oktober 2016 wurde Hubert Indra dann schließlich im Landeskrankenhaus Bozen von einem Team unter der Leitung des damals designierten Primars der HNO-Abteilung, Luca Calabrese, operiert. Nach neun Stunden war der vom Tumor befallene Teil der Zunge entfernt und mit Gewebe aus Indras Oberschenkel ersetzt worden. „Ärzte sind meiner Meinung nach genauso Hochleistungssportler wie ich“, urteilt Indra, „über Stunden am Operationstisch zu stehen erfordert eine hohe Konzentrations- uns Leistungsfähigkeit.“
Der schlechte Patient
Die Operation gelingt ohne Komplikationen, die Rekonvaleszenzzeit wird mehrere Monate dauern. An Sport, so die Ärzte, ist für mindestens zwei bis drei Monate nicht zu denken. „Ich war aber ein schlechter Patient“, stellt Indra lachend fest, „denn ich habe nicht befolgt, was die Ärzte gesagt haben. Ich wollte nicht, dass mein Körper zu viel abbaut, denn ich wusste: Wenn ich mehrere Monate nicht trainieren kann, dann wird es sehr hart, wieder zur vorigen Form zurückzufinden.“ Also beginnt Indra bereits 16 Tage nach dem Eingriff mit leichtem Training. Er macht Liegestützen und Kniebeugen. Er, der seit seiner Kindheit Sport betreibt und unzählige Stunden Training hinter sich hat, weiß genau, was er seinem Körper zutrauen kann. „Natürlich gibt es auch eine starke psychologische Komponente“, unterstreicht Indra, „man darf sich von der Situation nicht unterkriegen lassen. Das ist eben auch ähnlich wie im Sport, auch dort muss man Niederlagen verarbeiten und positiv nach vorne schauen.“
Indra steigert langsam aber stetig sein Trainingspensum – immer auf seinen Körper hörend. Bereits wenige Monate nach seinem Eingriff, im März 2017, stellt er einen neuen Italienrekord im Zehnkampf in der Kategorie M60 auf. Und ein Jahr später ist Indra dann mit 8.202 Punkten Weltrekordhalter in derselben Kategorie. Ein Weltrekord, der immer noch gültig ist.
Heute erinnert Indra an seine Erkrankung und die Operation noch eine gewisse Unempfindlichkeit auf jener Stelle der Zunge, die durch Eigengewebe ersetzt wurde. „Ich muss halt vorsichtig sein, wenn ich etwas Heißes trinke oder esse, denn unter Umständen könnte ich mich verbrennen, da ich die Hitze nicht spüre“, so Indra. Der veränderte Zungenschlag, also die Aussprache, ist für jemand, der den Zehnkämpfer vor seinem Eingriff nicht gekannt hat, kaum noch wahrnehmbar.
“Kritik kann ich nicht nachvollziehen”
Auch seinen ersten Schock bei der Bekanntgabe der Erstdiagnose hat er längst überwunden: „Ich war zuvor ja noch nie in einem Krankenhaus eingeliefert und auch jetzt bin ich nur dort, wenn ich meine Kontrolltermine habe. Eines muss ich wirklich loswerden: Meine Erfahrungen in den Krankenhäusern und mit Ärzten, Pflegern und anderem Personal waren nur positiv. Alle waren immer freundlich und sehr kompetent. Die Kritik, die gegenüber der Südtiroler Gesundheitsversorgung oft geäußert wird, kann ich tatsächlich nicht nachvollziehen.“
Geblieben ist Indra eine große Narbe auf seinem linken Oberschenkel. Dort, wo das Gewebe für die Nachbildung des entfernten Teils der Zunge entnommen wurde. Im Sommer, wenn Indra, in Shorts gekleidet die Nachwuchsmannschaft trainiert, wird er öfters gefragt, woher die große, gezackte Narbe denn stamme. „Dann sage ich immer, dass mich ein Haifisch gebissen hat – und der ist jetzt tot“, schmunzelt Indra.
Und es stimmt ja, Hubert Indra hat mit seinem ganz persönlichen „Haifisch“ – den Tumor – gekämpft und ihn getötet. Die Narbe an seinem Oberschenkel beweist es.
Begegnungen – unter diesem Titel stellt der Südtiroler Gesundheitsbetrieb ab Juli 2023 regelmäßig Patientengeschichten vor, die aufzeigen, welche Schicksale und Wendungen Menschen in ihrer gesundheitlichen Betreuung erfahren. Alle portraitierten Personen haben sich gerne bereit erklärt, über ihre Leidensgeschichte zu sprechen, und in einfühlsamer Art wurden mit allen wertvolle Gespräche geführt. Die Geschichten sollen anderen Betroffenen Mut machen und aufklären.