Empirische Studie

Gemischtsprachige Haushalte sind am reichsten

Freitag, 21. Oktober 2016 | 13:30 Uhr

Bozen – Gemischtsprachige Familien, in denen ein Elternteil Deutsch und der zweite Italienisch spricht, haben das höchste Finanz- und Immobilienvermögen in Südtirol. Das geht aus einer mehrjährigen Studie hervor: Die Universitätsprofessoren Günther Pallaver und Max Haller sowie Hermann Atz vom Institut für Sozialforschung & Demoskopie „apollis“ stellten am Donnerstag die Ergebnisse vor.

Träger dieses empirischen Forschungsprojektes ist die Michael-Gaismair-Gesellschaft, wie das Tagblatt Dolomiten berichtet. 1.700 Bürger in Südtirol wurden befragt. Die Ergebnisse liegen nun in dem 410 Seiten umfassenden Wälzer „Ethnische Differenzierung und soziale Schichtung in der Südtiroler Gesellschaft“ vor. Herausgeber sind Atz, Pallaver und Haller.

Eine der wichtigsten Erkenntnisse lautet: Die Unterschiede zwischen den drei Sprachgruppen in Südtirol werden immer kleiner, was Einkommen, Bildungsgrad und die Vertretung in den verschiedenen Wirtschaftszweigen anbelangt.

„Das ist für eine Gesellschaft mit mehreren Sprachgruppen ein großes Ergebnis – es ist ein Erfolg dieser Gesellschaft und der Politik“, erklärt Pallaver gegenüber den „Dolomiten“. In der Vergangenheit habe es eine klare Trennung nach Wirtschaftszweigen gegeben: Die deutsche Bevölkerung arbeitete vor allem in der Landwirtschaft, die italienische hauptsächlich in der Industrie und in der Verwaltung. „Es gibt immer noch Unterschiede – keine Frage: dass die deutsche Bevölkerung noch stärker im Handwerksbereich arbeitet und im Tourismus und der Dienstleistungsgesellschaft – aber es hat sich ausgeglichen“, so Pallaver.

Doch auch andere Ergebnisse machen hellhörig: Die „gemischtsprachigen Haushalte“, haben nicht nur das größte finanzielle und Immobilien-Vermögen, sie sind auch am wenigsten armutsgefährdet. Armutsgefährdet sind hingegen 17 Prozent der „rein“ deutschen Haushalte, 14 Prozent der italienischen und 13 Prozent der ladinischen Haushalte; bei den Einwanderern sind es 35 Prozent.

Gleichzeitig sind die Einwanderer zwar in den unteren Einkommens- und Vermögensschichten anzutreffen, haben aber den höchsten Bildungsgrad in Südtirol.

Die deutschsprachigen Bozner stehen beruflich und finanziell am besten da „und sind interethnisch am offensten und am besten integriert“, erklären die Herausgeber. Auch die italienischsprachigen Bozner befinden sich „sozioökonomisch in einer vergleichsweise günstigen Lage“. Allerdings seien sie „politisch weniger gut integriert“ als die Deutschsprachigen.

Ethnische Differenzierung und soziale Schichtung in der Südtiroler Gesellschaft: Die Studie im Detail

Das Buch zur Studie erscheint in der deutschsprachigen Version im Wissenschaftsverlag Nomos, in der italienischsprachigen Version beim Verlagshaus Franco Angeli.

Problemstellung der Studie

Die Studie über „Ethnische Differenzierung und soziale Schichtung in der Südtiroler Gesellschaft“ ist die erste systematische sozialwissenschaftliche Analyse der Südtiroler Gesellschaft, welche ihre strukturellen Besonderheiten unter besonderer Berücksichtigung der multiethnischen und multikulturellen Zusammensetzung erfasst. Im Fokus des Interesses standen die ethnische Schichtung und die daraus resultierenden gesellschaftlichen und politischen Folgen. Eine Differenzierung nach Sprachgruppen wird in der amtlichen Südtiroler Statistik nur punktuell, aber nicht systematisch vorgenommen. Ergebnisse von sozialstrukturellen Analysen dieser Art sind für jede moderne Gesellschaft wichtig, da ohne Daten Zustand und Effizienz einer Gesellschaft nicht gemessen, politische Zielsetzungen und Prioritäten nicht fundiert festgelegt werden können. Eine solche Analyse ist in ethnisch fragmentierten Gesellschaften, wie dies für Südtirol der Fall ist, von besonderer Relevanz, weil damit auch Fragen des ethnischen Friedens oder des ethnischen Konflikts verbunden sind. In einer eigens angelegten, repräsentativen Erhebung wurden rund 1.700 Personen befragt, wobei die italienische und ladinische Sprachgruppe sowie Zuwanderer überproportional erfasst wurden, um auch für sie noch verlässliche Aussagen treffen zu können.

Die Studie, deren Hauptergebnisse auf der Tagung vorgestellt werden, ist ein mehrjähriges Forschungsprojekt, das von der Südtiroler Landesregierung im Rahmen ihres Programms zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung finanziert und von mehreren wissenschaftlichen Einrichtungen gemeinsam umgesetzt wurde: der Michael-Gaismair-Gesellschaft Bozen als Projektträger in Zusammenarbeit mit dem Sozialforschungsinstitut Apollis und den Instituten für Soziologie und für Politikwissenschaft der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Die wissenschaftliche Leitung lag in den Händen der drei Herausgeber der im Nomos-Verlag erschienenen Publikation, Hermann Atz, Max Haller und Günther Pallaver, gemeinsam mit einem interdisziplinär zusammengesetzten Team von Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftlern (siehe die Autorenliste der Publikation).

Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse

Demografische und ethnisch-soziale Entwicklung: Innerhalb Südtirols haben sich die Anteile der autochthonen Sprachgruppen in den letzten Jahrzehnten nur unwesentlich verändert. In jüngster Zeit führte die Einwanderung zur Entstehung einer „neuen Minderheit“. Die durchschnittliche Größe der Haushalte ist in den letzten Jahrzehnten immer kleiner geworden, die Geburten- und die Sterberate sind langfristig gesunken, die Bevölkerung altert bei steigender Lebenserwartung.

Berufsstruktur und soziale Schichtung: Südtirol ist heute eine Dienstleistungsgesellschaft mit einem starken klein- und mittelbetrieblichen gewerblich-industriellen Sektor. Zwischen den Sprachgruppen zeigt sich eine ethnische Differenzierung besonders hinsichtlich der Merkmale Bildung und Berufe. So unterscheiden sich deutsch- und ladinischsprachige von italienischsprachigen Südtirolern hinsichtlich ihrer Lage in der objektiven Sozialstruktur (Bildungstitel, berufliche Zugehörigkeit und Berufspositionen), aber auch in der Lebensführung. Dennoch zeigte die Analyse recht klar, dass diese ethnischen Differenzen weder in objektiver noch in subjektiver Hinsicht zu wesentlichen Unterschieden der sozialen Lage zwischen diesen drei Sprachgruppen führen. Soziale Ungleichheit besteht nicht zwischen den Sprachgruppen, sondern innerhalb dieser zwischen verschiedenen Schichten. Subjektiv nimmt aber die italienische Sprachgruppe eine solche ethnische Ungleichheit allerdings wahr.

Soziale Beziehungen, Partizipation und interethnische Kontakte: Es zeigt sich, dass mit steigender sozialer Stellung das Beziehungsgeflecht dichter wird. Aber auch das Wohnumfeld ist ein Faktor, den man als „heimatliche Verortung“ bezeichnen könnte. Dadurch ist ansatzweise erklärbar, weshalb die Angehörigen der deutschen und der ladinischen im Gegensatz zur italienischen Sprachgruppe über ein deutlich höheres Sozialkapital verfügen. Der Säkularisierungsprozess hat in den letzten Jahrzehnten vor allem die deutsche und ladinische Sprachgruppe betroffen. Auffällig ist, dass die italienische Sprachgruppe ein etwas geringeres Interesse an Politik und politischer Partizipation aufweist. Dieser Effekt verstärkt sich mit abnehmenden Deutschkenntnissen.

Familienstrukturen und Heiratsmuster: Die Überwindung von Sprachgruppengrenzen in Paarbeziehungen durch Heiraten ist kein „Massenphänomen“ und liegt insgesamt bei rund 10 Prozent, davon sind 7 Prozent deutsch-italienische Paare. Wie in anderen Gesellschaften überwiegen Heiraten zwischen Männern und Frauen mit gleicher oder ähnlicher Bildung. Alleinerziehende bzw. Teilfamilien bilden einen immer größeren Teil der Familien.

Bildungsstruktur und soziale Mobilität: Im Bereich Bildung gibt es signifikante Unterschiede zwischen den deutsch- und den italienischsprachigen Südtirolern. Die italienischsprachige Bevölkerung verfügt vor allem in den älteren Generationen über höhere formale Schulabschlüsse als die deutsch- und ladinischsprachige. Wie in vielen anderen Ländern hat sich das Bildungsniveau der Frauen signifikant erhöht. Der Trend zum Bildungsaufstieg gilt für alle Sprachgruppen, war aber in den letzten jahrzenhten bei Personen deutscher und ladinischer Muttersprache stärker ausgeprägt. Die Schulwahl wird auch von einer kulturellen Komponente geprägt. Dies erklärt auch, warum mehr deutsch- und ladinischsprachige Südtiroler als italienischsprachige den Bildungsweg Lehre einschlagen.

Erwerbsarbeit, unbezahlte Haus- und Sorgearbeit und ehrenamtliche Tätigkeit: Unterschiede zwischen den Sprachgruppen sind vorhanden, sind aber geringer als vermutet. Das historisch bedingte Phänomen der ethnischen Segregierung nach Wirtschaftsbranchen hat eine starke Aufweichung erfahren. Eine Ausnahme bildet die Landwirtschaft. Einige Unterschiede finden wir auch bei Führungspositionen: Italienischsprachige sind verhältnismäßig häufiger in höheren Positionen als Angehörige der beiden anderen Sprachgruppen. Umgekehrt weist die deutsche Sprachgruppe einen fast doppelt so hohen Anteil an Selbständigen auf wie die italienische. Insgesamt lassen sich in sozialstruktureller Hinsicht Differenzen vor allem zwischen den Geschlechtern feststellen, die Frauen z.B. in Führungspositionen unterrepräsentiert sind. Männer sind stärker in den Bereichen Erwerbsarbeit und Ehrenamt aktiv, Frauen in den Bereichen Haushalt und Betreuung/Pflege.

Einkommensverhältnisse und -ungleichheit: Die Ungleichheit scheint in den letzten 15 Jahren nicht zugenommen zu haben. Die Unterschiede im Durchschnittseinkommen zwischen den autochthonen Sprachgruppen sind zwar geringfügig, aber dennoch relativ deutlich (in welcher Hinsicht). Trotz der sehr positiven wirtschaftlichen Entwicklung in den letzten Jahrzehnten sind die Unterschiede nach Sprachgruppen in der räumlichen Siedlungsstruktur, beim geerbten Vermögen (Immobilien und Betriebskapital), in den Präferenzen für Ausbildung und Beruf und damit bei den Zugangschancen zu einkommensstarken Unternehmertätigkeiten nicht verschwunden.

Eigentums- und Vermögensverhältnisse: Insgesamt ist die Vermögensungleichheit deutlich stärker ausgeprägt als die Einkommensungleichheit. Eine gewisse Ungleichheit in der Vermögensausstattung besteht auch zwischen den Sprachgruppen: Die Italienischsprachigen haben ein geringeres Gesamtvermögen. Aber unmittelbar ist nicht die Sprachgruppenzugehörigkeit ausschlaggebend für die Ungleichheit der Einkommens- und Vermögensverteilung, sondern die nach Sprachgruppen differenzierte Aufteilung der Personen auf Bildungswege, Berufe, Wirtschaftssektoren und das ererbte Vermögen.

Territorial-regionale Differenzierungen: Auch innerhalb Südtirols bestehen Unterschiede in der sozialstrukturellen Lage und den Einstellungen der Bevölkerung. Die deutschsprachigen Bozner stehen beruflich und finanziell am besten da und sind auch interethnisch am offensten und am besten integriert. Die italienischsprachigen Bozner befinden sich sozioökonomisch ebenfalls in einer vergleichsweise günstigen Lage, allerdings sind sie politisch weniger gut integriert. Als wirtschaftlich überraschend gut gestellt und sozial stark integriert erwiesen sich die Angehörigen der ladinischen Sprachgruppe. Generell kann man den Schluss ziehen, dass heute die entscheidenden sozialstrukturellen Differenzierungslinien in Südtirol nicht mehr zwischen den Deutsch- und Italienischsprachigen verlaufen, sondern eher innerhalb dieser sowie ganz eindeutig zwischen den drei autochthonen ethnischen Gruppen und den neuen Zuwanderern.

Migrantinnen und Migranten: Migranten in Südtirol haben den schlechtesten Zugang zu Einkommen und Vermögen. Migrantinnen und Migranten sind in Südtirol in objektiver wie in subjektiver Perspektive eher in den unteren Schichten der Gesellschaft zu finden, auch in ihrer eigenen Zuordnung, und weisen eine mehrfache Benachteiligung auf. Wichtig ist allerdings, auf ihren heterogenen Charakter hinzuweisen.

Wahrnehmungen sozialer Ungleichheit: Das Bild von Wirtschaft und Gesellschaft ist recht einheitlich und positiv, während die Politik weniger gut beurteilt wird. Besonders günstig wird die allgemeine Situation dabei von den Angehörigen der italienischen Sprachgruppe beurteilt. Umso bemerkenswerter ist es, dass diese die Situation der eigenen Sprachgruppe aber bei weitem kritischer sehen als die zwei anderen autochtonen Sprachgruppen, auch wenn diese Einschätzung den objektiven Befunden nicht entspricht.

Subjektive Beurteilung der Lebenslage: Die Lebenszufriedenheit in Südtirol ist als sehr hoch einzustufen, sowohl generell als auch in wichtigen Lebensbereichen wie Familie, Arbeit und Wohnung. An oberster Stelle im Hinblick auf die Bewertung steht das Familienleben, relativ am schlechtesten die finanzielle Lage. Auch in subjektiver Sichtweise bestehen keine bedeutsamen Unterschiede zwischen den autochthonen Sprachgruppen, während Migrantinnen und Migranten im Durchschnitt merklich abfallen.

Neue Herausforderungen für Politik und Gesellschaft

Südtirols Gesellschaft hat in den letzten Jahrzehnten insgesamt eine sehr positive Entwicklung erfahren. Dies betrifft nicht nur die dank einer guten ökonomischen Entwicklung für alle verbesserten Lebenschancen, sondern auch die Herausbildung einer relativ toleranten und offenen politischen Kultur. In der gefestigten Autonomie, im Minderheitenschutz und im Zusammenleben in einer mehrsprachigen Gesellschaft erkennen die Südtirolerinnen und Südtiroler zunehmend einen Mehrwert. Die markanten ethnischen Bruchlinien der Vergangenheit sind zwar nicht definitiv überwunden, aber das zivilisierte und konstruktive Zusammenleben unter den autochthonen Sprachgruppen ist heute Realität geworden. Bei allen positiven Entwicklungen dürfen aber einige Schwachstellen und problematischen Entwicklungen und Trends nicht übersehen werden. Dies betrifft Bereiche wie die soziale Ungleichheit, Familienstrukturen und Geschlechterverhältnisse, die Migrantinnen und Migranten oder das politische System.

Von: mk

Bezirk: Bozen