Wie wird ein natürlicher Sterbeprozess möglich?

Sterben gehört zum Leben

Samstag, 08. Oktober 2016 | 16:22 Uhr

Brixen – Wenn ein sterbender Mensch entscheidet, das Sterben zuzulassen, ist das für sein Umfeld oft nicht leicht auszuhalten, obwohl Sterben eigentlich etwas Natürliches ist. Wie kann es gelingen, dieses Sterben menschenwürdig zu gestalten ohne das Leben bzw. Leiden unnötig zu verlängern oder es vorzeitig zu beenden? Diese Frage stand heute im Mittelpunkt einer von der Caritas Hospizbewegung in Zusammenarbeit mit dem Bildungshaus Kloster Neustift organisierten Fachtagung mit dem Titel „Ich sterbe: Bitte nicht stören!“. Im Bildungshaus Kloster Neustift  befassten sich Fachleute aus dem In- und Ausland gemeinsam mit Hospiz-Freiwilligen, Mitarbeitern von Sozial- und Gesundheitseinrichtungen, Ärzten, Politikern, Pflegern und Angehörigen in Referaten und Workshops mit der Situation schwerkranker Menschen.

„Die Medizin ist heute so weit fortgeschritten, dass es kaum noch einen natürlichen Sterbeprozess gibt. Wir sollen und müssen uns deshalb die Frage stellen, ob die Medizin wirklich alles darf, was sie kann oder ob wir dem Sterben nicht doch wieder mehr Natürlichkeit zugestehen sollten“, griff Caritas-Direktor Paolo Valente den Grundgedanken der Fachtagung im Bildungshaus Kloster Neustift auf. Das Sterben werde heute vielfach nicht mehr als ein Teil gesehen, der zum Leben dazugehört, sondern als eine Krankheit, die behandelt werden müsse.

Damit sei den Menschen aber nicht geholfen, ganz im Gegenteil: „Wichtig ist, dass Menschen am Lebensende mit ihren Wünschen, Bedürfnissen und Entscheidungen ernst genommen werden. Mitgehen, Aushalten und Zulassen sind in der Hospizarbeit deshalb wichtige Aspekte“, unterstreicht Günther Rederlechner, der Leiter der Caritas-Hospizbewegung. „In einer menschenwürdigen Sterbebegleitung geht es nicht darum, das Leben bzw. Leiden unnötig zu verlängern oder es vorzeitig zu beenden.“

„Nur was angenommen wird, ist auch erlöst. Mit dieser Aussage haben die Kirchenväter das Geheimnis der Person Jesu zum Ausdruck gebracht“, sagte Bischof Ivo Muser zu dem Thema. „Auch in der Auseinandersetzung mit dem Sterben und mit dem Tod geht es um eine gesamtmenschliche Annahme – für die Betroffenen und für alle, die sich auf einen Prozess der Begleitung einlassen. Ich danke allen, die nicht wegschauen, ausblenden und verharmlosen, sondern diesen Weg aushalten, mitgehen, mitgestalten – in Anteilnahme, in Würde und in Verantwortung. Gläubige Menschen hoffen: Wir dürfen das Leben von seinem Anfang bis zu seinem Ende annehmen, weil Gott durch die Menschwerdung und das Sterben Jesu unser Leben und sogar unseren Tod angenommen und erlöst hat.“

Landesrätin Martha Stocker indes sagte: „Leben leben heißt auch Sterben zulassen, denn was bedeutet Leben, wenn es nicht auch ein natürliches Ende haben darf. Der bevorstehende Tod eines lieben Menschen ist für sein Umfeld zweifelsohne eine schwierige Situation, diese aber bewusst zu erleben, erleichtert vielleicht auch das eigene Abschiednehmen.“

„Die Erkenntnisse der Medizin und der Gesundheitswissenschaften haben nicht nur dazu beigetragen, das Leben zu verlängern, sondern sie ermöglichen auch den Beginn und das Ende des Lebens hinauszuzögern. Menschliche Gestaltung nimmt so auf die Lebens- und Sterbequalität Einfluss. Von einem natürlichen Tod kann unter diesen Bedingungen kaum mehr die Rede sein, vielmehr kommt es zur kulturellen Überformung dieses Lebensabschnitts durch die Medizin und Krankenversorgung“, meinte der Hauptreferent Erich Lehner. Eine Folge davon sei, dass viel mehr Menschen heute in Krankenhäusern sterben als zu Hause, obwohl sich die Betroffenen im Vorfeld meist genau das Gegenteil wünschen würden. Die verbesserten Rahmenbedingungen hätten den Menschen in modernen Gesellschaften ein gewaltiges Mehr an Lebenszeit verschafft, mit der jedoch auch eine Verlängerung der Sterbephase verbunden sei. Hier den Spagat zwischen künstlichem und natürlichem Sterbeprozess zu schaffen, sei die eigentliche große Herausforderung.

Zu den zahlreichen Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Tagung „Ich sterbe! Bitte nicht stören“ sprachen Evelin Tollenaere von der Palliativstation Martinsbrunn sowie Carla Leverato und Pierangela Silvestri, beides Freiwillige der Caritas Hospizbewegung.

In Südtirol sind etwa 220 Freiwillige aller drei Sprachgruppen in der Hospizarbeit tätig. Sie bieten im ganzen Land kostenlos professionelle Sterbe-, Trauer- und Angehörigenbegleitung an. Koordiniert und unterstützt werden sie von der Caritas Hospizbewegung, die sich um eine fundierte Ausbildung, Praxisbegleitung und Weiterbildung kümmert.

Von: mk

Bezirk: Eisacktal