Von: ka
Mailand – Ihr Medikamentenkonsum lässt interessante Rückschlüsse auf das „Seelenleben“ der Italiener im Covid-19-Jahr zu.
Aus der steigenden und sinkenden Nachfrage von sieben verschiedenen Arzneimitteln können nicht nur die Gedanken und Sorgen, sondern auch Wünsche und nicht zuletzt der Gesundheitszustand der Italiener „herausgelesen“ werden. Die Arzneimittel, die von den Italienern im Laufe der ersten neun Monate des „Covid-19-Jahrs“ eingenommen wurden, erzählen viel über das Wechselbad der Gefühle – die verschiedenen Wellen der Angst und der Erleichterung – das sie erleiden mussten, wobei die gesammelten Daten auch Einblicke in das intime Privatleben der Italiener erlauben.
Viele Experten vertreten die Meinung, dass der Konsum von verschiedenen Lebensmitteln und Medikamenten viel besser die Gewohnheiten und das seelische Wohlbefinden der Menschen widerspiegelt als klassische Umfragen von Meinungsforschungsinstituten. In dieser Hinsicht lässt der Medikamentenkonsum interessante Rückschlüsse auf das „Seelenleben“ der Italiener im Covid-19-Jahr zu. Zu diesem Zweck zog die angesehene italienische Zeitung „Corriere della Sera“ Experten der Iqvia – ein globales Unternehmen, das Daten auswertet und für den medizinischen und pharmazeutischen Bereich klinische Studien erstellt – zurate.
Dafür wurden die Verkaufszahlen von sieben ausgewählten Medikamentengruppen erfasst. Bei den ersten vier handelt es sich um Psychopharmaka wie Beruhigungsmitteln, Antidepressiva, Phasenprophylaktika und Schlafmitteln. Die drei anderen Arzneimittelgruppen sind hingegen dem Sexual- und Fortpflanzungsbereich zuzurechnen. Zu Letzteren gehören Medikamente wie Viagra und Cialis, die die erektile Dysfunktion bekämpfen, die klassische Antibabypille sowie „Notfallverhütungsmittel“ wie die sogenannte „Pille danach“. Um ein möglichst realistisches Bild zu erhalten, wurden die Verkaufszahlen der entsprechenden Medikamente, bei denen es sich fast ausnahmslos um verschreibungspflichtige Arzneien handelt, mit jenen des Vorjahres und zur Kontrolle mit denen des Jahres 2018 verglichen.
Die den sieben Gruppen angehörigen Medikamente spiegeln sehr gut die „emotionale Achterbahnfahrt“ der Italiener im Covid-19 Jahr wider. Während die Zeit des „Eingesperrtseins“ im Frühjahr mit großer Unsicherheit sowie mit steigenden Ängsten und Sorgen einherging, war der Sommer von überbordender Lebenslust und großer Ausgelassenheit gekennzeichnet. Im Herbst hingegen nahmen gleich wie im März und April die Nöte der Menschen wieder zu.
Mit Beginn des Lockdowns im März setzte ein wahrer Run auf Beruhigungsmittel, Antidepressiva und Schlafmittel ein. Der Verkauf der entsprechenden Medikamente schnellte gegenüber dem Vorjahr bis zu 17 Prozent in die Höhe. Laut dem Psychologen Massimo Ammanniti ist daraus klar ersichtlich, dass der Lockdown mit dem Anstieg von Platzangst und nächtlicher Unruhe zusammenfällt, was zum Teil auf eine Anpassung an die Angst vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus zurückzuführen ist.
Demgegenüber brach der Konsum von Medikamenten, die den Sexualbereich betreffen, vollkommen ein. Während der Verbrauch der „Notfallverhütungsmittel“ – umgangssprachlich „Pille danach“ genannt – im März und im April jeweils um 30 und 60 Prozent zurückging, brach der Konsum von Medikamenten, die wie Viagra und Cialis die erektile Dysfunktion bekämpfen, in denselben Frühjahrsmonaten gegenüber den gleichen Monaten des Vorjahrs um jeweils 26 und 45 Prozent ein. Einer Hypothese der Sexualforscherin Maddalena Biondi zufolge könnte dies auf die massive Verringerung der Möglichkeiten außerehelichen Geschlechtsverkehrs für ältere Männer sowie auf den Zusammenbruch der Prostitution während des Lockdowns zurückzuführen sein.
In der gleichen Zeit hingegen nahm die Nachfrage nach der klassischen Antibabypille um elf Prozent zu. Einem Experten zufolge könnte dies ein Indiz dafür sein, dass junge Paare während des Lockdowns beschlossen, ihre Familienplanung und ihren Kinderwunsch auf Eis zu legen.
Im Sommer kehrte sich dieses Bild ins Gegenteil um. Kaum aus ihrem „Lockdown-Gefängnis“ entlassen, nahmen sich die Italiener im Juli und im August einen übergroßen Anteil jener Freiheiten – auch sexueller Natur – zurück, die ihnen im Frühjahr verwehrt worden waren. Sowohl der Verbrauch der „Pille danach“ als auch jener von Viagra und Cialis nahm in den Sommermonaten verglichen mit dem gleichen Zeitraum des Vorjahrs signifikant zu. Dies – so Experten – lasse darauf schließen, dass im Sommer bis in den September hinein sowohl die jungen Leute als auch die Älteren die „verlorene Zeit“ im Frühjahr nachholen wollten.
Zugleich brach bereits ab dem Mai die Nachfrage nach der klassischen Antibabypille massiv ein, was vermutlich darauf zurückzuführen ist, dass junge Paare, die im März und April ihren Kinderwunsch aufgeschoben hatten, im Sommer darauf drängten, eine Familie zu gründen. In einem Satz zusammengefasst, könnte man behaupten, dass es die Italiener im Sommer so richtig krachen ließen. Zu diesem Bild passt auch, dass der Konsum von Psychopharmaka in den Sommermonaten leicht abnahm.
Erst mit dem erneuten Anstieg der Infektionszahlen im September setzte wieder eine erhöhte Nachfrage nach Beruhigungsmitteln, Antidepressiva und Schlafmitteln ein. Laut letzten Meldungen stieg der Verkauf von nicht verschreibungspflichtigen Beruhigungsmitteln im Oktober um rund 40 Prozent an.
Mit der zweiten Corona-Welle und der damit einhergehenden Verordnung eines zweiten Lockdowns dürfte sich die bereits im März und im April erlebte Zunahme von Ängsten und Sorgen wiederholen. Analog dazu könnte sich dies auch wieder in der Nachfrage nach bestimmten Medikamenten widerspiegeln.
Nicht wenigen Virologen und Epidemiologen zufolge ist die Italien mit voller Wucht treffende zweite SARS-CoV-2-Welle auf den „wilden Sommer“ der Italiener zurückzuführen. Im Sommer – so diese Stimmen – wurden zu viele Lockerungen gewährt und zu wenige Corona-Einschränkungen fortgeführt, deren Folgen nun zu spüren sind. Angesichts der Auswertung aller Zahlen dürfte die Meinung dieser Experten nahe bei der Wahrheit liegen.