Von: ka
Neapel – Beim WM-Finale Argentinien gegen Frankreich war es ziemlich sicher, für wen die meisten italienischen Herzen schlagen würden. Die ewige Rivalität mit den Franzosen auf allen Ebenen und die vielfachen familiären Verbindungen ins südamerikanische Land – von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum heutigen Tag wanderten mehr als drei Millionen Italiener nach Argentinien aus – gaben den Ausschlag dafür, dass nach der Enttäuschung der Azzurri, die es nicht nach Katar geschafft hatten, der Großteil der Italiener der „Albiceleste“ die Daumen drückte.
In Neapel ist der Hauptgrund aber, dass der erst letztes Jahr verstorbene Diego Armando Maradona dort unvergessen ist. Die Neapolitaner rechnen dem Ausnahmekönner aus Argentinien, der unter Experten als der vielleicht beste Fußballer der Geschichte gilt, weiterhin hoch an, dass er die süditalienische Hafenstadt aus dem Nichts in den strahlenden Fußballhimmel gehoben und Neapel so zu hohem Ansehen verholfen hatte. Diego Armando Maradona genießt in Neapel daher eine Verehrung, die an jener von Heiligen erinnert. Im Zentrum der Stadt prangt das Antlitz des Ballkünstlers daher nicht nur als großes Murales von einer hohen Hauswand, sondern lugt auch aus einem „Schrein“, der eigens für ihn errichtet wurde.
Da die Wirkungsstätte ihres größten Idols auch für viele Argentinier italienischer Abstammung fast ein „heiliger Ort“ ist, reisten mehr als 1.000 von ihnen für das WM-Finale eigens nach Neapel, um sich dort unter die Maradona- und Albiceleste-Fans zu mischen. Bereits am Sonntagvormittag waren die Via Toledo, das Spanische Viertel und der Largo Maradona, wo sich das riesige Wandgemälde von Diego befindet, voller feiernder Fans.
Der normale Weg der „Pilgerreise“ führte die Fans zuerst zum Schrein von Maradona, um für die Albiceleste seinen himmlischen Beistand zu erbitten. Anschließend machten sich die fahnenschwingenden Tifosi der argentinischen Nationalmannschaft zum Largo Maradona und zur Piazza Dante auf, um gemeinsam mit den Neapolitanern zu singen und zu feiern.
Um sich einige Euros zu verdienen, wurden am Straßenrand Empenadas verkauft. Viele Argentinier, die in der einen Hand eine Empenada und in der anderen einen Fernandito – Fernandito ist das argentinische Nationalcocktail und besteht aus Fernet und Coca Cola – hielten, glaubten am Sonntag, dass sie in ihrer Heimat seien.
Viele Neapolitaner hatten von der Gemeinde eigentlich gefordert, im Stadion oder auf einem der großen Plätze ein Public Viewing einzurichten, aber die Gemeinde und die Behörden, die vermutlich um die öffentliche Ordnung fürchteten, winkten ab. Findige Neapolitaner gaben über die sozialen Netzwerke aber bekannt, dass von ihnen an einem unbekannten Ort ein „wildes Public Viewing“ organisiert werden würde. Um die Behörden und die Ordnungskräfte in die Irre zu führen und deren frühes Einschreiten zu verhindern, wurde dieser Ort erst im letzten Moment bekannt gegeben. Es handelte sich um eine zweistöckige Diskothek, die im Nu rappelvoll war.
Die meisten Neapolitaner sahen das Spiel wie üblich zu Hause oder in der Bar auf der Straße unter ihrer Wohnung. Viele von ihnen luden die Argentinier sogar zu sich nach Hause ein, um gemeinsam der Albiceleste die Daumen zu drücken. Mehr als 120 Minuten lang feierten und litten Argentinier und Neapolitaner mit ihrer Mannschaft. Zuerst dem Sieg so nahe, dann nahe am Abgrund und zuletzt mit Freudentränen in den Augen, durchlebten die Fans ein Wechselbad der Gefühle.
Nach dem letzten verwandelten Elfmeter der Argentinier gab es kein Halten mehr. Wie in Buenos Aires ergossen sich auch in Neapel die Menschen in die Straßen. In ganz Neapel kam der Verkehr und das öffentliche Leben zum Stillstand. Die Autofahrer waren aber keineswegs erbost, sondern stiegen aus ihren Fahrzeugen, um gemeinsam mit den Fans zu singen und zu feiern. Wie ein argentinischer Journalist, der seinen Augen nicht trauen konnte, bemerkte, standen die Fußballchöre, Fangesänge und Hupkonzerte in Neapel denen in Buenos Aires in nichts nach. Bis in die frühen Morgenstunden wurde auf den Straßen gefeiert, gesungen und getanzt.
„Das ist für Diego, der uns vom Himmel aus zusieht“, so ein Neapolitaner. Auf dem Largo Maradona war ein kleines Kind in den Farben der Albiceleste zu sehen, wie es ein Bild von Maradona in den Nachthimmel hob.
Die Argentinier und Neapolitaner, die in dieser winterlichen WM-Nacht auf der Straße waren, wähnten sich im Paradies. „Somos campeones del mundo“, tönte es durch die Straßen aus den Kehlen von Zehntausenden von Tifosi, die ihr Glück nicht fassen konnten. Gleich wie die Bilder der siegreichen Argentinier gingen auch die Videos, die feiernde Neapolitaner zeigen, um die Welt. In ganz Italien wurde der WM-Sieg der Argentinier gefeiert, aber Neapel war das absolute Epizentrum allen Trubels.