Von: ka
Turin – Die italienische Öffentlichkeit ist über einen Richterspruch erschüttert, den viele als skandalös empfinden. Ein Mann, der seine damalige Frau vor drei Jahren minutenlang verprügelt und dabei schwer verletzt hatte – sie erlitt eine dauerhafte Schädigung des Augennervs und ihr Gesicht musste mit 21 Titanplatten rekonstruiert werden –, wurde wegen Körperverletzung lediglich zu 18 Monaten Haft verurteilt. Das bedeutet, dass er nicht ins Gefängnis muss.
Zudem wurde er vom Vorwurf der Misshandlung freigesprochen. In der Urteilsbegründung heißt es, sie habe die Ehe zerstört, weshalb Drohungen und Beleidigungen verständlich seien. Nach Ansicht der Richter sah der Täter sich selbst als „Opfer eines Unrechts“. Das Urteil löste einen Sturm der Entrüstung aus. Nicht nur Frauenrechtlerinnen sind der Meinung, dass dieses Urteil Frauen davon abhält, Anzeige zu erstatten, wenn sie Opfer von Misshandlungen und brutaler Gewalt geworden sind. Eine Feministin sprach gar von einer „Rückkehr ins Mittelalter”.
Die 44-jährige Lucia Regna wurde brutal zusammengeschlagen und wäre beinahe gestorben. Dennoch müsse man Verständnis für den damaligen Ehemann und Angeklagten haben, da seine Frau „die Ehe zerstört“ habe. So lautet die Begründung des Urteils der ersten Instanz in diesem Fall von Gewalt gegen Frauen. Die Frau wurde am 28. Juli 2022 von ihrem Partner während eines Streits brutal zusammengeschlagen, als sie ihm eröffnete, dass sie sich nach 17 Jahren angeblicher Misshandlungen endgültig von ihm trennen wolle. Die Richter verurteilten ihn zu einer Haftstrafe von eineinhalb Jahren, die er jedoch nicht antreten muss, da sie nach italienischem Recht zu kurz ist, um ihn ins Gefängnis zu bringen. Da die Richter dem Opfer keinen Glauben schenkten, sprachen sie ihn auch vom Vorwurf der Misshandlung frei.
In der Begründung bekräftigen die Richter laut der Turiner Tageszeitung La Stampa mehrfach, dass die Handlung des Mannes „verständlich“ sei. Die siebenminütige Prügelattacke vom 28. Juli 2022 sei demnach nicht das Ergebnis eines „unbegründeten und unerklärlichen Wutausbruchs“, sondern lasse sich „in die Logik menschlicher Beziehungen“ einordnen.
Die „Bitterkeit“, die durch die „Auflösung der häuslichen Gemeinschaft“ hervorgerufen wurde, sei „menschlich verständlich“, heißt es weiter. Der Ehemann habe sich „als Opfer eines Unrechts” gefühlt, weil seine Frau einen anderen Mann hatte. Dies sei „ein sehr menschliches und für jeden verständliches Gefühl“, heißt es in der Begründung. In diesem Gefühl sei, so die Richter, „einer der Schlüssel zur Interpretation dessen zu suchen, was am Abend des gewalttätigen Vorfalls geschah”.
Dem Ehemann wurden mildernde Umstände und Bewährung gewährt. Anstelle der von der Staatsanwaltschaft geforderten viereinhalb Jahre Haft, die er im Gefängnis verbracht hätte, erhielt er die milde Strafe von nur 18 Monaten auf Bewährung. Lucia Regna ist nicht nur vom Richterspruch enttäuscht, sondern fühlt sich durch das, was zwischen den Zeilen der Urteilsbegründung zu lesen ist, auch noch moralisch verurteilt. Die Richter schreiben, ihre Aussage sei „mit äußerster Vorsicht zu genießen, da sie mit erheblichen Interessen verbunden ist“. Grund dafür ist, dass das Opfer von ihrem Ex-Partner eine Entschädigung in Höhe von 100.000 Euro gefordert hat, da sie aufgrund der von ihm erlittenen Gewalttaten nicht mehr arbeiten kann.
„Er packte meinen Kopf und schlug ihn gegen den Marmor. Als ich am Boden lag, trat er mir ins Gesicht. Ich wachte erst im Krankenhaus wieder auf“, erinnert sich Lucia Regna an die siebenminütige Prügelattacke, bei der sie glaubte, er werde sie umbringen. Ihr stark verletztes und entstelltes Gesicht musste von den Ärzten mithilfe von 21 Titanplatten wiederhergestellt werden. Ihr Sehnerv wurde bei dem Angriff jedoch dauerhaft geschädigt, sodass die 44-Jährige nicht mehr aus der Nähe sehen kann. Es ist ihr daher unmöglich, ihren alten Beruf als Nagelmodellistin wieder auszuüben.
Nach dem Bekanntwerden des Urteils sind Lucia Regna und ihre Anwältin enttäuscht und entsetzt. „Es überrascht mich nicht, wenn Frauen mir sagen, dass sie die Kraft verloren haben, Anzeige zu erstatten, weil sie befürchten, selbst vor Gericht zu landen“, kommentiert die Zivilrechtsanwältin Annalisa Baratto bitter.
„Warum sagen sie uns, wir sollen Anzeige erstatten, wenn vom Staat dann etwas zurückkommt, das einem moralischen Schlag ins Gesicht gleicht und mehr wehtut als die Prügel selbst? Wozu dient der zum Schutz vor schweren Beziehungstaten verabschiedete ‚Codice Rosso‘? Ich habe es bereut, Anzeige erstattet zu haben“, gibt Baratto ihrer tiefen Enttäuschung freien Lauf. Das milde Urteil für diese unglaublich brutale Gewalttat wird nicht nur vom Opfer, sondern auch von vielen Italienern als Skandal empfunden. Eine Feministin sprach gar von einer „Rückkehr ins Mittelalter“.
Politikerinnen versprechen Abhilfe. Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende von Fratelli d’Italia im Abgeordnetenhaus, Augusta Montaruli, fordert, dass die Kommission für Femizide die Prozessakten einsehen kann. „Wir dürfen nicht zulassen, dass das Vertrauen der Frauen sinkt, Vorfälle anzuzeigen, die zu Femiziden führen können und die in jedem Fall eine Last in ihrem Leben bleiben und ihre Entscheidungen ungerechtfertigt beeinflussen“, kündigt sie an. „Es ist unsere Pflicht, zu überprüfen und gegebenenfalls einzugreifen, um auch eine immer solidere Gesetzgebung zu erreichen, die Gewalthandlungen bekämpft“, betont Montaruli.
Auch die Vorsitzende der Autonomiegruppe, Senatorin Julia Unterberger, zeigt sich in einer Stellungnahme entsetzt über das Urteil. „Im Grunde macht der Richter die Frau mitverantwortlich für die Gewalt. Hätte sie den Mann nicht verlassen und sich in einen anderen verliebt, dann hätte sie nicht um ihr Leben fürchten müssen.“ Urteile sind nicht einfach juristische Akte. Sie sind Teil der Kultur, die zum öffentlichen Diskurs wird und Gesellschaft, Institutionen und Politik prägt. Auch deshalb ist das Urteil von Turin nicht nur falsch, sondern auch erschütternd“, erklärt die SVP-Senatorin.
Aktuell sind 45 Kommentare vorhanden
Kommentare anzeigen