Tunesische Küstenwache auf Schlepperjagd – VIDEO

„Wollt ihr sterben? Stoppt den Motor! Die Schleuser haben euch getäuscht!“

Dienstag, 03. Oktober 2023 | 07:23 Uhr

Lampedusa/Sfax(Tunesien) – Das Mittelmeer zwischen Tunesien und Sizilien ist Schauplatz eines Katz-und-Maus-Spiels.

Mit kleinen Motorbooten, die jeweils mehrere Dutzend Flüchtlinge tragen, versuchen die Schlepper, Lampedusa zu erreichen. Patrouillenboote der tunesischen Küstenwache, die Jagd auf sie machen, fangen sie ab, beschlagnahmen die Boote und bringen die Migranten nach Tunesien zurück. Da die Schlepper fast bis zuletzt das Wagnis eingehen, der Küstenwache zu entwischen, kommt es auf hoher See nicht selten zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Der bekannte Journalist Fausto Biloslavo des Mailänder Tagblatts Il Giornale begleitete eines der tunesischen Boote auf der Jagd nach Menschenschmugglern.

Facebook/Ministère de l’Intérieur – Tunisie

„Wollt ihr sterben? Stoppt den Motor! Die Schleuser haben euch getäuscht!“, ruft Kapitän Faisal, der nach einem Kurs in Gaeta ein wenig Italienisch spricht, vom Deck des tunesischen Patrouillenboots den Passagieren eines Schlepperboots zu. Als er in der vom Vollmond erhellten Dunkelheit der Nacht die rotweiße Silhouette des in Italien vom Stapel gelassenen Patrouillenboots der tunesischen Küstenwache sieht, hält der Schlepper sein Boot, das mit mindestens 40 Migranten beladen ist, an. „Sie haben uns mit der italienischen Küstenwache verwechselt. Jetzt wirst du gleich sehen, was sie alles anstellen werden, um ihre Fahrt nach Lampedusa fortzusetzen“, lächelt Faisal den italienischen Journalisten Fausto Biloslavo an.

Wenige Momente später gibt der Schleuser, der am Steuer des Außenbordmotors sitzt, abrupt Gas. Vom Patrouillenboot mit eingeschaltetem Blaulicht und Sirenen verfolgt, versucht der Schlepper samt seiner „menschlichen Ware“ zu entkommen. Da das Boot der Küstenwache zu groß ist, um das Schlepperboot aufzuhalten, lassen die Seeleute ein Zodiac-Schlauchboot ins Meer. Die Matrosen sind bei diesem Manöver nur mit leichten Gummiknüppeln bewaffnet. Da ihre Familien in Tunesien vonseiten der Schlepperbanden Repressalien fürchten müssen, sind die Gesichter der Männer der Küstenwache mit Sturmhauben verhüllt. Nicht zuletzt, weil sich die Schlepper und die Migranten immer öfter gewaltsam dagegen wehren, zurück nach Tunesien gebracht zu werden, wird überlegt, die Seeleute zu bewaffnen.

Facebook/Ministère de l’Intérieur – Tunisie

„Stoppt den Motor, stoppt den Motor. Es ist vorbei“, schreit Faisal auf Französisch, als er sich mit voller Geschwindigkeit dem Boot, das in der herbstlichen See heftig schwankt und in dem eng aneinander gekauert die Migranten sitzen, nähert. Es sind fast alles junge Männer, die aus Gegenden südlich der Sahara stammen. Als der Schlepper erneut eine Flucht versucht, schlagen die Matrosen mit einer langen Eisenstange auf den Motor ein.

„Bitte, bitte, lasst uns im Namen Allahs gehen“, fleht die einzige Frau Faisal an. Auch die anderen Flüchtlinge beginnen, ihre Hände zu heben und um Gnade zu bitten. „Bitte, bitte, wir wollen nicht zurück nach Tunesien“, bitten die Migranten, die nach zwei Tagen auf offener See vor Kälte zittern, um Weiterfahrt. Nachdem sie 48 Seemeilen in Richtung Lampedusa gefahren sind, ergeben sich die Migranten ihrem Schicksal und lassen sich an Bord des Patrouillenboots hieven.

Die Szene ist herzzerreißend, aber die tunesische Küstenwache kann sie nicht laufen lassen, indem sie ein Auge zudrückt und die illegale Einwanderung nach Europa fördert. Es ist ein Katz-und-Maus-Spiel, das sich die Schlepper und die tunesischen Patrouillenboote seit vielen Monaten liefern. Seit Anfang des Jahres griffen die Männer der Küstenwache 53.788 Migranten auf, wobei ihnen die meisten im Meer vor der tunesischen Hafenstadt Sfax ins Netz gingen. Das sind zwar doppelt so viele wie im Jahr 2022, aber rund 88.000 Migranten schafften es heuer dennoch, bis nach Italien zu gelangen.

Ministère de l’Intérieur – Tunisie

Die Fahrt des Patrouillenboots war Teil eines 48-stündigen Großeinsatzes an Land und auf See, in dessen Rahmen die tunesische Nationalgarde nach eigenen Angaben 62 Schleuserboote mit 682 Migranten abfing. Die Bootsflüchtlinge stammten überwiegend aus afrikanischen Staaten südlich der Sahara, aber unter ihnen befanden sich auch 228 Tunesier.

Stolz melden die tunesischen Behörden, dass „zwischen Schleppern, Organisatoren und Mittelsmännern für 48 Personen die Handschellen klickten“. Ein kommandierender Offizier weist aber darauf hin, dass die Zusammenarbeit mit der italienischen Küstenwache verbesserungsbedürftig sei. „Sie versenken die kleinen Boote nicht. Sie kehren oft zurück und werden von den Menschenhändlern erneut benutzt“, beklagt sich der tunesische Offizier.

Das größte Problem aber ist, dass für die Männer der Nationalgarde die Abfangaktionen immer gefährlicher werden. „Die Schlepper und die Migranten werden immer aggressiver. Sie bedrohen uns mit Messern und Macheten, bewerfen unser Boot mit Steinen und drohen manchmal sogar, Benzinkanister als Molotowcocktails zu verwenden. Sie lassen nichts unversucht, um sich den Weg nach Lampedusa ‚freizukämpfen‘“, erklärt Faisal.

Ministère de l’Intérieur – Tunisie

Eine Kostprobe davon bekommt der italienische Journalist an Bord eines Patrouillenschnellboots, das zur Verstärkung gerufen wurde. Im Flüchtlingsboot schwenkt ein Mann die sudanesische Fahne. Ein Migrant fuchtelt mit einer großen Machete in der Luft herum, mit der man mit einem einzigen Hieb einen Kopf abtrennen könnte.

Als sich das Patrouillenschnellboot der tunesischen Küstenwache dem Boot nähert, fliegen große Steine auf das Deck. Einer sieht, wie das italienische Kamerateam die Szene filmt, und wirft einen Stein nach ihm. Um Wellen zu verursachen und so den kleinen Kahn zum Schwanken zu bringen, fahren die anderen Patrouillenboote mit voller Kraft im Kreis. Die Sudanesen geben aber nicht auf und setzen ihre Fahrt in Richtung Italien fort, wobei sie immer wieder das islamische Glaubensbekenntnis „Es gibt keinen Gott außer Allah“ wiederholen.

Das Patrouillenschnellboot erhält den Befehl, das Flüchtlingsboot zu rammen und dabei auf den Außenbordmotor zu zielen. Das Manöver gelingt. Der nunmehr im Meer treibende Kahn ergibt sich. Ruhig und gefasst lassen sich die Flüchtlinge festnehmen und auf die Boote verteilen. Nur einer der jüngeren Männer ist wütend und verzweifelt, weil sein Traum, Europa zu erreichen, unwiderruflich platzt. „Ich schwöre bei Allah, dass ich jetzt lieber sterben würde“, schreit er und schlägt gleichzeitig mit seinen Händen auf das Wasser.

Die zutiefst enttäuschten Migranten werden zurück nach Sfax gebracht, wo sie am Hafenkai auf die Formalitäten warten. Viele von ihnen werden aber vermutlich erneut eine illegale Fahrt nach Italien wagen.

Von: ka