Von: luk
Bozen – Die Südtiroler Hochschülerschaft sh.asus zeigt sich besorgt, in welche Richtung die Gesellschaft in diesen Tagen treibt und stellt in einem offenen Brief einige Punkte klar. So etwa, dass die Jugend auch hinter restriktiven Maßnahmen zur Coronabekämpfung steht. Außerdem sollten wissenschaftliche Erkenntnisse zum Virus nicht relativiert werden. Auch dem Gerede von einer vermeintlichen “Corona-Diktatur” müsse eine klare Absage erteilt werden. Im Schreiben wird auch darauf eingegangen, dass die wirtschaftlich prekäre Lage absolut ernst zu nehmen ist, aber neue Wege auch im Wirtschaftsbereich diskutiert werden müssen.
Nachfolgend der offene Brief in ungekürzter Länge:
Im Notstand des Anstands
In Zeiten allgemeiner Gereiztheit haben viele den Drang, ihren Senf dazuzugeben. Das Medium hierzu sind entweder rauhe Facebook-Posts oder offene Briefe. Meist richten sie sich gegen „die Politik“. Auch wir junge Menschen, wir Studierende spüren ein Unbehagen. Wir sehen mit Sorge, wohin unsere Gesellschaft treibt. Und wir können es nicht mehr verantworten, dass „empörte“ Bürger*innen auch im Namen der Jugend die Bekämpfung des Virus vehement in Frage stellen. Aber an wen einen offenen Brief richten? Auch wenn der Facebook-Shitstorm-Gerichtshof anders geurteilt hat: Landeshauptmann Kompatscher ist leider nicht an allem schuld, daher sprechen wir alle Mitbürger*innen an.
1. „Die Jugend“ ist nicht prinzipiell gegen restriktive Corona-Maßnahmen.
Es war einmal eine Zeit, da war es noch üblich, die Parolen des „mir holten zomm“ in den sozialen Medien zu teilen. Damals waren wir Jugendlichen die ewig unverbesserlichen Superspreader, die schuld an der Verbreitung des Virus sind. Jetzt, wo es sich herausgestellt hat, das Covid-19 nur ein Vorwand für die Versklavung der Menschheit ist, fungieren wir als Feigenblatt für Teile der selbsternannten „Systemkritiker“: „Für unsere Kinder und Jugendlichen!“ dient als emotionaler Appell gegen restriktive Maßnahmen zur Bändigung der Pandemie. Als die Jugend letztes Jahr auf die Straße ging, um daran zu erinnern, dass gerade die Welt untergeht, suchte man eine solch herzerwärmende Solidarität vergebens. Ok, niemand von uns ist mit der Gegenwart glücklich. Wir Studierende sind die letzten, die scharf auf social distancing, Lockdown und abgesagte Events wären. Ja, (auch) wir leiden unter dieser alptraumhaften Situation. Ja, wir erkennen auch die bitteren wirtschaftlichen Konsequenzen der Pandemie und den von ihr verschärften Klassenkonflikt. Doch die psychosoziale Gesundheit unserer Generation darf nicht als Vorwand für faktenfreie Rundumschläge gegen Mundschutzmasken, Fernunterricht und Impfungen missbraucht werden! Wir verwehren uns dagegen, mit jeder Form von Corona-Leugnerei und – Verharmlosung in Verbindung gebracht zu werden. Davon zu trennen ist natürlich die konstruktive und differenzierte Kritik, wie sie von Eltern- und Sozialverbänden angebracht wird, überhaupt für unsere jüngeren Kolleg*innen, welche keine eigene Interessenvertretung haben. Endlich wäre auch die Schülervertretung in die Entscheidungen einzubinden – bevor diese getroffen werden. Es ist aber reine autoritäre Bevormundung, wenn das Argument „de ormen derfen jo netamol mehr jung sein“ dazu dient, sinnvolle und nötige Maßnahmen partout schlechtzureden. Nein, uns jungen Menschen geht es nicht nur um Feten, wir haben auch ein Hirn und möglicherweise Großeltern, die wir nicht elendig abkratzen sehen wollen. Auch wenn es genug junge Erwachsene gibt, die sich völlig verantwortungslos benehmen – trifft das nicht auf jede Generation zu? Also, endlich aufhören, „die“ junge Generation als Feigenblatt für persönliche Ansichten zu verwenden. Wir brauchen niemanden, der an unserer Stelle spricht. Wer etwas für uns junge Leute tun will, kann sich gegen Hass, Hetze und den ganzen Verschwörungsmüll im Netz stellen, und dadurch mithelfen, dass unser Land auch dann noch demokratisch ist, wenn wir mal Großeltern sind.
2. Nein, in der Wissenschaft ist nicht jede Meinung gefragt.
In Schule und Uni wird auch anno 2020 noch versucht, uns ein wissenschaftliches Weltbild zu vermitteln. Was bedeutet es, ein solches Verständnis der Wirklichkeit zu haben? Es heißt, einzusehen, dass nicht jede Person mit abgeschlossenem Medizinstudium ein Experte für Coronaviren ist, und dass wohl die meisten „Studien“ im Internet das Papier nicht wert sind, auf dem sie (leider) ausgedruckt werden – Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens, jedes Studium, erstes Semester. Es heißt auch, sich einzugestehen, dass längst nicht alle „ganzheitlichen“ Zugänge zur menschlichen Gesundheit und Psyche dazu geeignet sind, das Management einer Pandemie weltweiten Maßstabs irgendwie zu bereichern. Und wenn uns eine Theorie auch noch so sehr zusagt, weil sie „belegt“, dass Covid-19 ja nicht halb so schlimm wie die Grippe ist, oder dass die Mundschutzmaskenpflicht ein regelrechter Genozid an der eigenen Bevölkerung ist – sie wird dadurch nicht wahr. Dem Virus ist es egal, ob wir Lust auf seine Seuche haben oder ob uns Masken lästig sind. In diesem Sinne sind einige von uns durchaus erstaunt, wie in den Medien – auch in den öffentlich-rechtlichen – Wissenschaft relativiert wird bzw. wie man krampfhaft bemüht ist, auch Meinungen einen Raum zu geben, die im harmlosesten Fall falsch sind. Naturwissenschaft ist vielschichtig und komplex, zuweilen kontrovers, aber es geht in ihr nicht darum, was man will und denkt und glaubt, sondern was stimmt oder wahrscheinlich ist. Wir hoffen, dass die Entscheidungsträger*innen in Land und Staat weiter auf Wissenschaftler*innen hören und so dem Druck standhalten, der vom verrohten social-media-Mob auf sie ausgeübt wird. Ob wir als Menschen so viel reifer sind als in seuchengeplagten früheren Zeiten, kann man mittlerweile bezweifeln, der große Unterschied liegt aber im gewaltigen Fortschritt der Epidemiologie, Virologie, der Immunologie. Hören wir auf sie.
3. Wäre Südtirol eine Diktatur, könnte man das nicht andauernd herumschreien.
Auf ganzer Linie versündigen sich die gegen unsere Zukunft, die – im Bündnis mit offen faschistischen Elementen – in verschiedenen italienischen Städten zur Gewalt griffen und greifen um den „tyrannischen“ Premier Conte zu stürzen. Trotz aller Verachtung der „Walschen“ schielt wohl manch einer auch hierzulande eifersüchtig nach Süden und würde es begrüßen, wenn die leit endlich auf die Stroß gian, es in de do oben ze zoagen. Aber, Mannder,
es isch eher Zeit, endlich konsequent die Mascherina aufzusetzen, als in Bürgerkriegsstimmung zu verfallen. Folgt man Südtiroler Medien, bzw. den Äußerungen der verbliebenen „freien“ Bürger*innen und jener Politiker*innen, die gerne auf Trendwellen surfen, muss man eindeutig zum Schluss kommen: Südtirol ist ein totalitäres Gesundheitsregime! Immer mehr Menschen, auch solche, denen die walsche Besatzungsstaats-Verfassung normalerweise eher ein Dorn im Auge ist, sind offenbar der Meinung, in einer Diktatur zu leben. Beispielsweise, weil die Polizei angehalten ist, bei Verletzung von bestimmten Hygieneregeln einzugreifen. Wäre ja noch schöner; wer gegen Recht verstößt, dem drohen Strafen – das gab es doch nur bei den Nazis! Kostenlose Massentests, um brauchbare Daten zu sammeln und vielleicht schneller und besser aus dieser Sch*ße rauszukommen? Vor Monaten wäre man
dafür auf dem Balkon gestanden, um der Landesregierung zu applaudieren. Jetzt weiß man aber: Jede Diktatur fängt bei Corona-Massentests an! Dieses Verschwimmen von politischen Begriffen und Konzepten bereitet uns ernste Sorgen. Man muss nicht jede Maßnahme unterstützen, die in Bozen oder Rom getroffen wurde, im Gegenteil! Aber zwischen dem rationalen Aufzeigen von Alternativen und dem fahrlässigen Aufpeitschen der Bevölkerung
gibt es feine Unterschiede. Und tragen denn (mediale) Schlammschlachten dazu bei, die Krise besser zu bewältigen, oder geht es um etwas anderes? Mit guten Gründen kann man monieren, dass die Exekutive in vielen Ländern – so auch Italien – in ihrem Krisenmanagement die gewählte Volksvertretung wenig eingebunden hat, und nicht immer ganz so vorgegangen ist, wie sich das ein Verfassungsrecht-Lehrbuch wünschen würde. Aber lassen wir doch
wirkliche Verfassungsjuristen über die Grauzonen der Verhältnismäßigkeit diskutieren, und nicht jene kommentargeilen online-Experten, die im Namen des Volkes wohl alle möglichen Urteile fällen würden – man kann die Verfassung ja so lesen wie man will, Meinungsfreiheit!!! Grundrechte sind heilig und unveräußerlich, erbärmlich ist dagegen die teils politisch motivierte Mode, sie jetzt überall verletzt zu sehen und Freiheit im Sinne der Verfassung mit Egoismus gleichzusetzen. Dass man die nötigen Restriktionen sehr wachsam verfolgt, ist in unser aller Interesse, aber auch hier braucht es Verhältnismäßigkeit und Realismus im Einschätzen dessen, was unsere (demokratischen!) Regierungen tun und warum.4. Man muss auch an die Wirtschaft denken, besser: sie über-denken.
Ja, die Pandemie erfordert ökonomisch sehr einschneidende Maßnahmen. Davon wird gerade unsere Generation nicht profitieren. Diskutieren wir daher lieber, wie wir diese Krise sozial gerecht refinanzieren, statt darüber, ob Mundschutzmasken töten. Existenzängste haben eine traurige, reale Grundlage! Aber kanalisieren wir unsere Unzufriedenheit endlich progressiv: Indem wir nicht gegen eine Krankheit protestieren, die uns gar nicht hören kann, sondern sie solidarisch und respektvoll meistern und dann eine bessere Zukunft aufbauen. Ja, dann kommt vielleicht die Abrechnung – aber nicht mit Virolog*innen und Rettungskräften, sondern mit einem System, das 1. solche Pandemien produziert (Ausbeutung der Natur durch den Menschen), das 2. solche Absurditäten erlaubt wie Spekulationen auf medizinische Ausrüstung (hatten wir im März – der Markt muss ja frei sein) und das 3. dafür sorgt, dass für die Finanzierung von öffentlichen Schulden der „Mittelstand“ und mittelständische Unternehmen herhalten müssen. Eine friedliche, demokratische Abrechnung, ohne Hass, Häme und beschämende Fake News. Aber mal sehen, ob so viele Bürger*innen so emotional gegen die kommende neoliberale Austeritätspolitik ankämpfen werden wie gegen Massentests.
5. Fazit: Bitte ohne Lügen streiten, dafür gemeinwohlorientiert und friedlich.
Fortschrittliche Kritik an der Coronapolitik der Landesregierung muss endlich getrennt werden von „keine Lust mehr auf Covid“ oder Kleinrederei der überaus ernsten Lage, in der wir uns befinden. Gut, dass das die meisten Südtiroler*innen noch tun. Vor allem sollte die Debatte unaufgeregter erfolgen und ohne das Ziel, einzelne Personen fertigzumachen. Schuldzuweisungen helfen momentan nicht weiter, es sollte andere Prioritäten geben als Macht-und Grabenkämpfe. Zur Verantwortung für reale oder vermeintliche Versäumnisse kann man Entscheidungsträger*innen auch dann ziehen, wenn das Ärgste vorüber ist. Zum Glück vernimmt man auch hierzulande noch Stimmen, die zur Solidarität und zur Geduld aufrufen. Als Südtiroler HochschülerInnenschaft hoffen wir, dass sie nicht gänzlich von den postfaktischen bzw. postdemokratischen Ego-Marktschreiern übertönt werden. Das hoffen wir für unser aller Wohl und insbesondere für die Zukunft des politischen Systems, die wir ja erleben werden. Die Jugend will viel revolutionieren, in einer Sache sind ist sie aber sehr konservativ: Wir stehen zur Wissenschaft, zur Demokratie und zum zwischenmenschlichen Anstand! Unsere Menschlichkeit wollen wir auch dann nicht aufgeben, wenn wir nicht mit allen Entscheidungen der Landesregierung einverstanden sind – und das sind wir gewiss nicht.
DIE SÜDTIROLER HOCHSCHÜLER/INNENSCHAFT
Bozen, am 17.11.2020