Regierungschef Donald Tusk berief Sondersitzung ein

Polen schießt Drohnen ab und ruft NATO auf den Plan

Mittwoch, 10. September 2025 | 15:11 Uhr

Von: APA/dpa/Reuters/PAP/AFP

Polen hat nach Regierungsangaben mehrere Drohnen abgeschossen, die während eines russischen Angriffs auf die Ukraine am Mittwoch in den Luftraum des NATO-Staats eingedrungen sind. Es ist der erste bekannte Fall, bei dem ein Mitglied des westlichen Militärbündnisses seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine Schüsse abgefeuert hat. “Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg standen wir einem offenen Konflikt so nah”, sagte Ministerpräsident Donald Tusk im Parlament.

Die politische Lage habe sich verändert. Er habe daher Konsultationen der NATO-Verbündeten beantragt. Tusk berief sich dabei auf Artikel vier des Bündnisvertrags, der Beratungen der Militärallianz vorsieht, wenn sich eines ihrer Mitglieder bedroht sieht. Mehrere führende Politiker aus dem Westen warfen Russland eine Eskalation vor und erklärten sich demonstrativ solidarisch mit Polen.

Tusk zufolge handelte es sich um russische Drohnen. Insgesamt sei der polnische Luftraum in der Nacht 19 Mal verletzt worden. Ein großer Teil der Drohnen sei von Belarus aus eingedrungen. Das Land ist einer der engsten Verbündeten Moskaus und grenzt wie die Ukraine an Polen. An dem Abwehreinsatz waren einem Insider zufolge polnische F-16-Kampfjets, niederländische F-35-Maschinen, italienische AWACS-Aufklärungsflugzeuge sowie gemeinsam von der NATO betriebene Tankflugzeuge beteiligt. Nach Angaben des polnischen Innenministeriums wurden bis Mittag an verschiedenen Orten sieben Drohnen sowie Trümmerteile einer Rakete gefunden. Die Herkunft der Objekte sei noch nicht geklärt. Opfer gab es nach polnischen Angaben keine.

“Wir haben es mit einer großangelegten Provokation zu tun”, erklärte Tusk. “Wir sind darauf vorbereitet, solche Provokationen abzuwehren. Die Lage ist ernst, und wir müssen uns ohne Zweifel auf verschiedene Szenarien vorbereiten.” Das polnische Militärkommando bezeichnete den Vorfall als einen “Akt der Aggression” und sprach von einer “realen Bedrohung” für die Bevölkerung. Mehrere Flughäfen, darunter der internationale Airport Chopin in der Hauptstadt Warschau, stellten ihren Verkehr vorübergehend ein, bevor das Militär den Einsatz am Vormittag für beendet erklärte. Die Bevölkerung insbesondere im Grenzgebiet wurde während des Vorfalls aufgefordert, aus Sicherheitsgründen zu Hause zu bleiben.

Russland hat keinen Angriff auf Ziele in Polen geplant

Der Kreml lehnte eine Stellungnahme ab und verwies auf das Verteidigungsministerium. “Die Führungsspitzen der EU und der NATO werfen Russland täglich Provokationen vor”, sagte Präsidialamtssprecher Dmitri Peskow. “Meistens, ohne auch nur zu versuchen, dafür irgendeine Begründung zu liefern.”

Das russische Verteidigungsministerium erklärte, es habe nicht geplant, Ziele in Polen zu treffen. Es habe einen erfolgreichen Großangriff mit Drohnen auf militärische Einrichtungen in der Westukraine gegeben, erklärte das Ministerium. Es verwies darauf, dass die russischen Drohnen, “die angeblich die Grenze zu Polen überquert haben”, eine Reichweite von nicht mehr als 700 Kilometern hätten. Dennoch sei man zu Konsultationen mit dem polnischen Verteidigungsministerium zu diesem Thema bereit, hieß es weiter. Details werden zunächst nicht bekannt.

Warschau spricht von Desinformation

Der polnische Vize-Ministerpräsident Krzysztof Gawkowski warf Moskau und Belarus vor, in seinem Land eine Desinformationskampagne zu dem Drohnen-Vorfall gestartet zu haben. Der Einflug von Drohnen in den polnischen Luftraum sei eine von Russland geplante Aktion gewesen, betonte Gawkowski. Russland hatte kurz zuvor erklärt, keine Angriffe auf Ziele in Polen geplant zu haben. Das Militär des eng mit Russland verbündeten Belarus teilte seinerseits mit, vom Kurs abgekommene Drohnen abgeschossen zu haben. Zudem habe Belarus Polen und Litauen über den Anflug von Drohnen informiert.

Seit Beginn des Krieges im Februar 2022 kam es vereinzelt vor, dass russische Raketen oder Drohnen in den Luftraum von Nachbarländern der Ukraine eindrangen. Dies geschah jedoch nie in einem solchen Ausmaß, und von Abschüssen wurde bisher nichts bekannt. 2022 starben in Polen zwei Menschen durch eine fehlgeleitete ukrainische Flugabwehrrakete.

“Weiterer Eskalationsschritt”

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach nach dem Vorfall am Mittwoch von “einem weiteren Eskalationsschritt”. Insgesamt habe Russland in der Nacht diesmal 415 Drohnen und 40 Raketen gegen die Ukraine eingesetzt. Mindestens acht der vom Iran hergestellten Drohnen seien auf Polen gerichtet gewesen. Es habe sich nicht um ein Versehen gehandelt. “Das ist ein extrem gefährlicher Präzedenzfall für Europa.” Nötig sei eine starke und gemeinsame Reaktion “der Ukraine, Polens, aller Europäer und der USA”.

Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas erklärte, dass die Drohnen nach ersten Erkenntnissen vermutlich absichtlich in den europäischen Luftraum gesteuert worden seien. “Der Krieg Russlands eskaliert, er endet nicht.” Kallas forderte eine verstärkte Unterstützung der Ukraine und mehr Investitionen in die europäische Verteidigung. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen verlangte weitere Sanktionen gegen Russland.

Die NATO stufte den Vorfall nach Angaben eines Insiders nicht als Angriff ein, sondern als absichtliche Verletzung des Luftraums. Ein Sprecher des Bündnisses sagte, Generalsekretär Mark Rutte stehe mit Warschau in Kontakt und das Bündnis berate sich eng mit Polen.

Putin testet Westen

Der ukrainische Außenminister Andrij Sybiha sagte, die Verletzungen des polnischen Luftraums zeigten, dass der russische Präsident Wladimir Putin seinen Krieg ausweite und den Westen auf die Probe stelle. “Je länger ihm nicht mit Stärke begegnet wird, desto aggressiver wird er”, erklärte Sybiha auf X. “Eine schwache Reaktion jetzt wird Russland noch mehr provozieren – und dann werden russische Raketen und Drohnen noch weiter nach Europa fliegen.”

Ähnliche Töne wurden in den USA angeschlagen. Senator Dick Durbin von den Demokraten erklärte, wiederholte Verletzungen des NATO-Luftraums seien ein Zeichen dafür, dass “Putin unsere Entschlossenheit testet, Polen und die baltischen Staaten zu schützen”. Der republikanische Abgeordnete Joe Wilson, ein hochrangiges Mitglied des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten, forderte seinen Parteikollegen US-Präsident Donald Trump auf, mit Sanktionen zu reagieren. “Putin … testet unsere Entschlossenheit jetzt direkt auf NATO-Territorium.”

Trump, der Putin im August zu einem Gipfeltreffen in den USA noch herzlich willkommen geheißen hatte, sagte am Wochenende, er sei bereit, nach monatelangen erfolglosen Gesprächen über ein Friedensabkommen eine zweite Sanktionsphase gegen Russland einzuleiten. Dies war sein bisher deutlichster Hinweis darauf, dass er als Reaktion auf den Krieg in der Ukraine den Druck auf Moskau oder dessen Ölkäufer erhöhen könnte. Der ranghöchste Sanktionsbeauftragte der Europäischen Union war am Montag in Washington, um über die ersten koordinierten transatlantischen Maßnahmen gegen Russland zu beraten, seit Trump im Jänner mit dem Versprechen ins Amt zurückgekehrt war, den Krieg in 24 Stunden zu beenden.

Wien steht “an der Seite Polens”

Bundeskanzler Christian Stocker sprach von einer “ernsthaften und inakzeptablen Eskalation”. “Wir stehen in voller Solidarität an der Seite Polens”, postete der Kanzler auf X. Für Außenministerin Beate Meinl-Reisinger ist der Vorfall “inakzeptabel.” “Putin dreht immer weiter an der Eskalationsspirale und zeigt der gesamten Welt, dass er kein Interesse an Frieden hat”, reagierte die Außenministerin. Verteidigungsministerin Klaudia Tanner schrieb auf X, dass es nun wichtig sei, “besonnen zu reagieren und die Lage nicht militärisch weiter eskalieren zu lassen”.

Der Drohnenabschuss setzte die Warschauer Börse unter Druck. Der Leitindex WIG20 rutschte in der Spitze um 2,6 Prozent ab. Auch die Landeswährung Zloty verliert zum Euro und zum Dollar leicht an Wert.

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