Von: APA/dpa/Reuters
Einen Tag nach der Ernennung eines neuen Premierministers hat es in Frankreich massive Protestblockaden gegeben. Mit den Demonstrationen, die sich gegen die seit längerem angekündigten Sparpläne richten, soll das ganze Land blockiert werden. Es gab Ausschreitungen, bisher wurden rund 200 Menschen festgenommen. Im Zentrum von Paris wurde ein Restaurant in Brand gesetzt. Frankreichs neuer Premierminister Sébastien Lecornu hat unterdessen Veränderungen in Aussicht gestellt.
“Es wird Brüche geben müssen”
“Es wird Brüche geben müssen und nicht nur in der Form, nicht nur bei der Methode, auch inhaltliche Brüche”, sagte Lecornu bei der Amtsübergabe in Paris. Man müsse die Kluft zwischen der politischen Situation und den Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger beenden. Dafür müsse man sich auch ändern, sagte Lecornu. Man müsse kreativer, teils technischer sein und ernsthafter in der Art, mit der Opposition zu arbeiten. Genauer ging er nicht auf die von ihm gewünschten Veränderungen ein.
Noch am Nachmittag wolle er sich mit Vertretern von Parteien zusammensetzen, sagte Lecornu. Weitere Treffen mit Politikern und Gewerkschaften sollten folgen.
Lecornu steht vor der schwierigen Aufgabe, Mehrheiten im gespaltenen französischen Parlament zu finden. Macrons Mitte-Kräfte, die Rechtsnationalen um Marine Le Pen und das linke Lager stehen sich in der Nationalversammlung als drei große Blöcke gegenüber. Eine Mehrheit hat keiner von ihnen. Die letzten zwei Vorgänger von Lecornu scheiterten bei einem Misstrauensvotum beziehungsweise der Vertrauensfrage an fehlendem Rückhalt in der Parlamentskammer.
Premier: “Wir werden es schaffen”
An die Bevölkerung gerichtet sagte Lecornu: “Wir werden es schaffen.” Er fügte hinzu: “Es gibt keinen unmöglichen Weg.” Der neue Premier hielt sich in seiner Antrittsrede äußert kurz. “Diese Instabilität und die politische und parlamentarische Krise, die wir erleben, erfordern Bescheidenheit und Zurückhaltung”, sagte er.
Der 39 Jahre alte Lecornu war zuvor Verteidigungsminister. Er kommt ursprünglich von den Konservativen, gehört aber seit Jahren dem Mitte-Lager an, und gilt als Vertrauter des französischen Präsidenten Emmanuel Macron.
Knapp 200 Menschen sind bei Protestaktionen in Frankreich festgenommen worden, teilte Innenminister Bruno Retailleau am Mittwoch mit. Er sprach von Angriffen auf Polizisten, Sabotageaktionen an Stromkabeln und einem abgebrannten Bus. Es habe etwa 50 Einsätze gegeben, um Blockaden aufzulösen. Die Pariser Polizei teilte mit, dass im Großraum der Hauptstadt 132 Menschen festgenommen wurden.
Auf Videos waren Ausschreitungen zu sehen. Medien berichteten von mehreren Straßenblockaden sowie Blockaden an Schulen und bei Bus- und Straßenbahndepots. Innenminister Retailleau meinte, es handle sich nicht um eine Bürgerbewegung, sondern die Bewegung sei “von Linksextremen vereinnahmt” worden.
“Bloquons tout”
Die Proteste unter dem Motto “Blockieren wir alles” (“Bloquons tout”) richten sich vor allem gegen die seit längerem angekündigten Sparpläne. Die Behörden sind in Alarmbereitschaft, rund 80.000 Sicherheitskräfte sind mobilisiert. Welches Ausmaß die Proteste annehmen werden, ist ungewiss. Unklar ist auch, wer genau ursprünglich hinter dem Aufruf steckt. Die Protestaufforderungen erfolgen dezentral, viele verschiedene Seiten wollen ihrem Ärger Luft machen. Unter anderem Linke, Gelbwesten-Gruppierungen und Gewerkschaften wie etwa die der Eisenbahner riefen zum Protest auf.
Die Proteste sind vor allem eine Reaktion auf den Sparbudget-Vorschlag des bisherigen Premiers François Bayrou. Am Montag hatte dieser nach nicht einmal neun Monaten im Amt in der Nationalversammlung eine Vertrauensfrage verloren und seine Mitte-Rechts-Minderheitsregierung so zu Fall gebracht.
Innenminister: 80.000 Polizeikräfte mobilisiert
Durch die Blockaden wurden erwartet, dass es im täglichen Leben zu Einschränkungen kommen kann. Die französische Bahn kündigte Beeinträchtigungen im Regionalverkehr an. Auch die Abläufe an französischen Flughäfen könnten ins Stocken geraten, warnte die französische Zivilluftfahrtbehörde DGAC. Auch in Unternehmen und an Universitäten soll es französischen Medien zufolge Protestaktionen geben.
Der Druck von der Straße dürfte erst mal bleiben: Für den 18. September haben dann die Gewerkschaften zu landesweiten Streiks und Kundgebungen gegen den Sparkurs der Regierung aufgerufen. Inzwischen nehmen die Proteste das Ausmaß eines Generalstreiks an.
Auch Macron in der Schusslinie der Proteste
Unter Druck steht aber auch Staatschef Macron. Die linkspopulistische Partei LFI forderte seinen Rücktritt. Die Rechtsnationalen wollten mit einer Parlamentsauflösung den Weg für Neuwahlen freimachen. Dass Macron schon einen Tag nach der verlorenen Vertrauensfrage von Bayrou einen neuen Premier ernannte, kann auch als Versuch gewertet werden, selbst aus der Schusslinie zu kommen.
Der neue Premierminister und frühere Verteidigungsminister Lecornu gilt als sein Vertrauter – ob das Macron hilft, bleibt abzuwarten. Die ersten Reaktionen der bisherigen Opposition fielen alles andere als positiv aus.
Seit der Parlamentswahl im vergangenen Jahr ist die Nationalversammlung tief gespalten. Macrons Mitte-Leute, Le Pens Rechtsnationale und das linke Lager stehen sich als drei große Blöcke gegenüber. Eine eigene Mehrheit hat keiner von ihnen.
Zeit drängt bei Budgetaufstellung
Lecornu soll nun mit den politischen Kräften in der Nationalversammlung beraten, um den dringend nötigen Haushalt auf die Beine zu stellen, hieß es in der Mitteilung des Élysée-Palastes zu seiner Ernennung. Auch Vereinbarungen für die Entscheidungen der kommenden Monate solle Lecornu treffen, heißt es weiter. Gemeint sein dürfte, dass Lecornu sondiert, welche Parteien Teil einer Koalition sein könnten, wer ihn dulden könnte oder zumindest bei einzelnen Themen bereit wäre, gemeinsame Sache zu machen.
Lecornu wird nachgesagt, einen gewissen Draht zu der rechtsnationalen Führungsfigur Marine Le Pen zu haben. Er gilt als Politiker, der von der bürgerlichen Rechten toleriert wird und dem im linken Lager zumindest keine Komplett-Ablehnung entgegenschlägt.
Lecornu wandte sich noch am Abend seiner Ernennung direkt an die Menschen im Land. Er sagte, er verstehe die Erwartungen und kenne die Schwierigkeiten, und versprach, mit Demut ans Werk zu gehen.
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