Toteis, ein bitterböses „Heldenmärchen“

Die Abgründe eines „Ichs“

Freitag, 11. März 2022 | 20:51 Uhr

Bozen – „Wie unheimlich kann uns die Heimat werden? Welche Mechanismen begünstigen die Radikalisierung eines Menschen? Und wie viel Feind sind wir uns selbst?” Es sind beißende Fragen, die der Librettist Martin Plattner und die Südtiroler Komponistin Manuela Kerer in der Oper Toteis dem Publikum entgegenhalten. Das Opernfestival 2022 Larger Than Life bringt mit dem Auftragswerk ein bitterböses Heldenmärchen auf die Bühne.

Nach der Erstaufführung in Wien in einer reduzierten Version ist die Oper am Mittwoch, 16. und Donnerstag, 17. März im Stadttheater Bozen (20.00 Uhr) erstmals in ihrer Originalfassung zu sehen.

Ausgehend von der historischen Figur Viktoria Savs zeigt Toteis, wie sich selbstbetrügerischer Nationalismus und Hass im 20. Jahrhundert breit machen konnten und schlägt immer wieder beklemmende Brücken in die Gegenwart.

Eine Koproduktion

Vor den zwei Aufführungen findet im Foyer des Stadttheaters um 19.00 Uhr eine Werkeinführung statt, bei der Manuela Kerer, Mirella Weingarten und Walter Kobéra über die künstlerische Herangehensweise an den sensiblen Stoff sprechen.

Viktoria Savs, geboren 1899 wuchs in Meran bei ihrem Vater auf. Im 1. Weltkrieg kämpfte sie in Männerkleidung an der Seite der Österreicher an der Dolomitenfront. 1917 verlor sie aus heute unbekannten Gründen ein Bein. Daraufhin wurde sie als „Heldenmädchen von den drei Zinnen“ gefeiert. Im Nationalsozialismus rühmte man ihren Einsatz für das Vaterland und verlieh ihr die Kriegsverdienstmedaille und die Tapferkeitsmedaille. Sie trat der NSDAP bei und wurde für die Nazi-Propaganda instrumentalisiert. Bis zu ihrem Tod hielt sie am Mythos der tapferen Soldatin fest und besuchte Veteranentreffen. Der Operntitel Toteis bezeichnet jenes Gletschereis, das sich vom aktiven Gletscher losgelöst hat. Eine Anspielung an Viktoria Savs abgetrenntes Bein aber auch an ihre totgeglaubte Gesinnung.

In Martin Plattners und Manuela Kerers Interpretation wird Savs Lebensgeschichte zum Prototyp für das ‚Gespenstische‘ der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das auf perfide Weise wiederkehrt. „Im Libretto versuche ich, Fragen aufzuwerfen, Bruchlinien aufzuzeigen und das größte „Gespenst“ von allen – die Abgründe eines ‚Ichs‘ – auszuloten,“ erklärt Martin Plattner, „Damals wie heute laufen Menschen Gefahr, sich in abscheulichen Ideen zu verlieren und nicht mehr aus diesen herauszufinden.”  Die vielen Gesichter, das Unfassbare dieser Figur und die Farben ihres Charakters inspirierten Manuela Kerer zu Klangfarben, die – wie Viktoria selbst – oft zwischen den Zeilen schwingen. „Mit Blick auf Viktoria will ich auch das Heute hinterfragen, herausarbeiten, was auf den ersten Blick vielleicht nicht verurteilenswert erscheint, aber fatale Entwicklungen mit sich zieht. Denn wie viel ist gerade jetzt politisch wieder möglich, was vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen wäre”, sagt die Komponistin Manuela Kerer.

Ursprünglich für März 2020 geplant und im September 2020 in einer reduzierten Instrumentalfassung in Wien aufgeführt, wird Toteis in Bozen erstmals in seiner originalen Version zu sehen sein. Darsteller: Isabel Seebacher (Viktoria), Verena Gunz (Karola, Vikerl), Alexander Kaimbacher (Luis, Peter), Bernhard Landauer (Hansl, Charlotte), Klemens Sander (Eugen), Christian Balzamà, Martina Lazzari, Sarah Merler, Matteo Sala (Kameraden). Haydn Orchester von Bozen und Trient unter der Leitung von Walter Kobéra. Regie und Bühnenbild Mirella Weingarten. Kostüme Julia Müer. Lichtdesign Norbert Chmel. Klangregie Christina Bauer. Choreografie Christian Balzamà. Chor Wiener Kammerchor. Chorleitung Bernhard Jaretz. Koproduktion Fondazione Haydn Stiftung, Neue Oper Wien, Vereinigte Bühnen Bozen.

Manuela Kerer, in Brixen geboren, studierte Komposition in Innsbruck und bei Alessandro Solbiati in Mailand. Sie hat bereits für das Solistenensemble Kaleidoskop in Berlin, das Klangforum Wien, „die reihe“, die Bayerische Kammerphilharmonie, die Münchener Biennale und Wien Modern sowie für Musiker wie Julius Berger und Sarah Maria Sun komponiert. Ihre Werke wurden im Konzerthaus in Berlin und Wien, auf dem Kampnagel in Hamburg, der Accademia Filarmonica Romana und der ACF in New York aufgeführt. Kerer erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Walther-von-der-Vogelweide Preis (2009), den SKE-Publikumspreis (2011) und das Österreichische Kompositionsstipendium (2008, 2011, 2016). Im Jahr 2009 wurde sie vom Ausschuss der Europaregionen zu einem von europaweit 100 young creative talents gewählt. 2012/2013 wurde Kerer vom österreichischen Außenministerium für das Programm „New Austrian Sound of Music“ ausgewählt. 2015 erhielt sie das internationale Stipendium „Composer in Residence – Komponistinnen in Frankfurt“. 2016 war sie Composer in Residence bei den Festspielen St. Gallen / Steiermark, 2019 bei der Schlossmediale Werdenberg und beim Festival „Leicht über Linz“. Manuela Kerer promovierte auch in den Fächern Jura und Psychologie.

Martin Plattner, geboren 1975 in Zams, aufgewachsen in Wenns im Pitztal, lebt als freier Schriftsteller in Wien und Innsbruck. Studium der Komparatistik an der Universität Innsbruck. Zwischen 2002 und 2010 Hospitanzen, Regie- sowie Kostümassistenzen und Tätigkeit als Dramaturg in der freien Szene (Wien, Niederösterreich, Schweiz). Seit 2003 schreibt er Theatertexte, die u.a. am Landestheater Linz, am Landestheater Innsbruck, an den Vereinigten Bühnen Bozen, am brut im Künstlerhaus in Wien und im Laboratorio Arte Alameda in Mexiko-Stadt gezeigt wurden. Für seine Arbeit wurde Plattner mehrfach ausgezeichnet.

Walter Kobéra ist seit 1991 musikalischer Leiter der Neuen Oper Wien und seit 2003 auch deren Intendant. Von 1978 bis 2002 war er Mitglied des Tonkünstler-Orchesters, 1986 gründete Kobéra das Amdeus Ensemble-Wien, das sich in den letzten Jahren besonders auf das zeitgenössische Musiktheater spezialisiert hat. 2006 fand mit der Uraufführung von Radek von Richard Dünser die erste Koproduktion mit den Bregenzer Festspielen statt, weitere folgten. Unter Kobéras Leitung spielten bereits zahlreiche Orchester, darunter das Bruckner Orchester Linz, das slowakische Rundfunkorchester Bratislava und das Baltic Philarmonic. Von Presse und Publikum umjubelt waren seine Interpretationen u. a. von Alban Bergs Lulu, Brittens Billy Budd, Lachenmanns Das Mädchen mit den Schwefelhölzern und die ihm gewidmete Oper PARADISE RELOADED (Lilith) von Peter Eötvös. 2013 feierte er sein Debüt an der Kölner Oper, 2016 am Teatro Cólon in Buenos Aires und am Teatro dell’Opera in Rom. 2017 dirigierte er erstmals in Madrid. 2014 wurde unter Kobéras musikalischer Leitung die Oper Biedermann und die Brandstifter von Šimon Voseček in Bozen aufgeführt. Im Rahmen der Opernsaison der Stiftung Haydn dirigierte er 2016 in Trient die Oper Die Nase von Dmitrij Šostakovič.

Mirella Weingarten studierte Bildhauerei, Schauspiel und Bühnenbild in Edinburgh, London und Hamburg. Sie arbeitete sieben Jahre bei der zeitgenössischen Oper Berlin als Bühnenbildnerin und parallel als Regisseurin und Choreographin im Bereich Tanztheater und Musiktheater. Seit 1999 ist sie selbständig als Regisseurin und Bühnenbildnerin tätig und ist seit 2011 Künstlerische Leiterin der Schlossmediale Werdenberg, dem Festival für alte Musik, neue Musik und audiovisuelle Kunst in der Schweiz. Ihre Tätigkeiten als Regisseurin und Bühnenbildnerin führten sie u.a. an das Haus der Berliner Festspiele, die Komische Oper, das Konzerthaus Berlin, das Radialsystem, die Bregenzer und Salzburger Festspiele, die Biennale Venedig, zur Expo Zaragoza, nach Weimar, Leipzig, Hamburg, Innsbruck, Rom, St. Gallen, Basel, Bern, Luzern, Schwetzingen, Amsterdam, Athen, London, Adelaide u.v.a.

 

Von: bba

Bezirk: Bozen