Von: apa
Mit Serhij Zhadan erhält einer der herausragendsten Schriftsteller der Ukraine am Freitag am Rande der Salzburger Festspiele den diesjährigen Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Der 50-jährige Charkiwer, der auch als Rocksänger bekannt ist, dient seit dem vergangenen Jahr in der ukrainischen Nationalgarde. In einem Videointerview am Wochenende erklärte er der APA, warum er nun als Soldat Literaten interviewt und wie der Krieg das Schreiben verändert hat.
“Ich sitze nicht im Schützengraben”
APA: Sie sind aller Wahrscheinlichkeit nach der erste Träger des Österreichischen Staatspreises für europäische Literatur, der zum Zeitpunkt der Auszeichnung Militärdienst leistet. Womit beschäftigen Sie sich als Soldat?
Serhij Zhadan: Ich bin im Mai 2024 eingerückt und diene in der Öffentlichkeitsarbeit der Brigade “Chartija”, nunmehr zweites Korps der Nationalgarde (des ukrainischen Innenministeriums, Anm.). Dabei beschäftige ich mich mit Kommunikation innerhalb der Brigade, aber auch mit der Öffentlichkeit. Ich bin die Person, die sich dafür einsetzt, dass alle von der Brigade wissen und sie alles Nötige hat. Diese Position hat nicht unmittelbar mit Kampfhandlungen zu tun, ich sitze also nicht im Schützengraben. Aber ich bin Militärperson und berichte täglich an meinen Kommandanten. Im Plan für heute steht, dass ich mit Ihnen spreche. Er weiß also Bescheid.
APA: In den letzten Tagen wurde in der Ukraine intensiv Ihr Interview mit der 95-jährigen Lina Kostenko besprochen, einer seit den 1960ern legendären und für ihre Widerständigkeit bekannten ukrainischen Dichterin. Abgesehen vom Namen Ihrer Sendung – “Rundumverteidigung. Die Ersten” hat das wenig mit Militär zu tun, sondern es ist einfach interessanter Journalismus.
Zhadan: Klar, das ist kein Interview von der Front. Wir haben “Radio Chartija” gegründet, ein Onlineradio der Brigade. Das ist eine Plattform, wo man zeigen kann, wie das Land in Zeiten des Krieges lebt. Trotz Krieg und obwohl wir jeden Tag unter russischem Beschuss stehen, entwickelt sich Kultur. Auch bleiben Identität und Werte erhalten, Dinge, die es den Menschen erlauben, weiterzumachen. In dieser Sendung reden wir mit Literaten, aber es können auch Generäle sein. Es gibt keinen ausschließlichen Fokus auf militärische Themen, wir zeigen aber die ukrainische Armee als einen Bereich, in dem sich etwas entwickelt, und wo es Potenziale gibt. Auch Soldaten sollen gebildet und belesen sein – deshalb sprechen wir viel über Kultur, Literatur, Musik und Theater.
“Ironie und Leichtigkeit sind verschwunden”
APA: In der Jurybegründung ist insbesondere von Ihrer Literatur seit dem Euromaidan von 2014 die Rede. Wie unterscheidet sich der Schriftsteller Zhadan von vor 2014 von jenem zwischen 2014 und 2022 sowie von jenem seit Beginn des großen Krieges?
Zhadan: 2014 hat fraglos viel verändert, das gilt auch für meine Texte, viel Ironie und vielleicht auch Leichtigkeit sind verschwunden. Aber seit 2022 ist überhaupt alles anders. Was ich jetzt schreibe, erinnert kaum noch an mein Schreiben von vor 2014.
APA: Welche Auswirkungen wird der Krieg auf die ukrainische Literatur insgesamt haben?
Zhadan: Das wird eine ganz andere Literatur sein. Ausgehend von dem, was ich jetzt sehe, wird in einem ganz anderen Narrativ und einem ganz anderen Metatext geschrieben. Einstweilen fällt es mir jedoch schwer, das genau zu definieren – alles ist erst im Entstehen. Es wird aber mehr Aufmerksamkeit für Menschen und Text geben, die Intonation wird eine andere sein, vielleicht mehr Schwarz-Weiß und mit größerem Kontrast. Neue Namen werden auftauchen. Nach dem Ende dieses Krieges wird es für viele von uns, die vor 2014 schrieben, auf dem Bücherregal für neue ukrainische Literatur keinen Platz mehr geben. Ein Teil meiner Kollegen hat es nicht geschafft, sich an diese neue Wirklichkeit anzupassen. Und die hat sich grundsätzlich verändert. Das ist ein anderes Land mit anderer Atmosphäre, die nach einer anderen Sprache verlangt.
APA: Wie sehen Sie ein Ende des Kriegs gerade aus der Perspektive der Grenzstadt Charkiw. Der ehemalige österreichische Außenminister Alexander Schallenberg sprach davon, dass Geografie unveränderlich sei.
Zhadan: Er hat absolut recht – Geografie lässt sich nicht negieren. Die Russen befinden sich derzeit 20 Kilometer außerhalb von Charkiw, und unsere Brigade hält dort die Frontlinie. Aber selbst wenn die Kampfhandlungen morgen aufhörten und die Russen das Territorium der Ukraine verlassen würden, werden sie weiter in 40 Kilometer Entfernung sein. Wir reden hier von einem Nachbarn, der nicht nur böse und aggressiv ist, sondern, so zeigt die Geschichte, sich auch ziemlich unangemessen verhält. Da ist alles möglich.
“Charkiw ist auch eine Festungsstadt”
In der Zukunft wird sich daher die Verteidigungskonzeption der Stadt verändern müssen: Charkiw ist nicht nur eine Großstadt, sondern auch eine Grenz- sowie in großem Ausmaß auch Festungsstadt. Sie wird dafür verantwortlich sein, einen großen Teil des Landes zu schützen. Dies wird die Verteidigung, aber auch die Industrie, Wirtschaft und Politik der Stadt tangieren.
Was das Kriegsende selbst betrifft: Ich bin weder Experte für Politik noch fürs Militär. Aber mir scheint, dass es kaum eine schnelle Beendigung dieser Situation geben kann. Auf die eine oder andere Weise wird es zwar einen Moment geben, an dem die Kampfhandlungen und die sogenannte “heiße Phase” aufhören. Aber das wird kaum das Ende des Krieges sein. Denn solange die Ukraine die besetzten Gebiete und vor allem die betroffenen Staatsbürger, die sich in russischen Gefängnissen und Lagern befinden, nicht zurückholt, wird dieser Krieg aus ukrainischer Sicht nicht als beendet gelten.
“Putin führt Krieg gegen die ganze demokratische Welt”
APA: Wird Donald Trump helfen? Vielleicht nach 50 Tagen – wie nun angekündigt?
Zhadan: Ich bin nicht bereit, die Handlungen des US-Präsidenten zu kommentieren, das wäre eine sehr undankbare Aufgabe. Jedenfalls rechnen wir mit der Unterstützung unserer Verbündeten, da wir überzeugt sind, dass dieser Krieg nicht nur die Ukraine betrifft. Das ist Putins Krieg gegen die ganze demokratische Welt. Und auch wenn es heute in Österreich, in Deutschland und der Schweiz keine russischen Soldaten gibt, bedeutet das nicht, dass diese Länder nicht der Aggression der Russischen Föderation ausgesetzt sind.
APA: Sie haben oft davon gesprochen, dass Sie sich mit der Ukrainisierung des Ostens der Ukraine beschäftigen und Ihnen es zu verdanken ist, dass in Charkiw vor allem seit 2014 die ukrainische Sprache und Literatur zunehmend angesagt waren. Kann es in Zukunft eine ukrainische Literatur in anderen Sprachen geben, oder müssen etwa Russisch schreibende Literaten wie Borys Chersonskyj, Andrij Kurkow und in der jüngeren Generation Jewhenija Bjelorussez ins Ukrainische wechseln, um Teil der ukrainischen Literatur zu bleiben?
Zhadan: Chersonskyj und Kurkow schreiben hervorragend auch auf Ukrainisch. Aber dieser Krieg zeigt, dass Sprache nicht nur mit Kultur und Kommunikation zu tun hat, sondern auch mit Sicherheit. Faktisch führen die Russen einen Krieg gegen das Ukrainische. Wobei die russische Sprache kein Schutz ist – sie töten auch Russischsprachige, das ist ihnen egal. Sie töten alle, die einen Bezug zur Ukraine und zur ukrainischen Identität haben. Eines ist ganz klar: Während die russischen Okkupanten nur Russisch reden, spricht man auf der ukrainischen Seite sowohl Russisch als auch Ukrainisch. Letzteres ist daher ein Attribut für ukrainische Identität. Die Ukrainisierung ist ein komplizierter Prozess, das ist nicht an einem Tag zu erledigen. Wir haben ein diesbezügliches Gesetz (aus dem Jahr 2019. Anm.), das wirkt. Aber es ist klar, dass nach Unterzeichnung eines Gesetzes die gesamte Bevölkerung nicht sofort ins Ukrainische wechselt.
“In meinem Leben gibt es viel Österreich”
APA: Sie sind einem knappen Vierteljahrhundert mit Österreich in Kontakt, damals konnten Sie mit einem Stipendium mehrere Monate lang an der Uni Wien studieren. Welche Rolle spielt das Land für Ihr eigenes Schaffen?
Zhadan: In Wien habe ich mein erstes Prosabuch “Big Mäc. Geschichten” verfasst, ebenso den Gedichtband “Die Geschichte der Kultur zu Anfang des Jahrhunderts”. Ich habe seinerzeit eine Anthologie mit Übersetzungen von zehn zeitgenössischen Dichterinnen und Dichtern aus Wien veröffentlicht, ein Stück über Jura Soyfer geschrieben, der ein Klassiker der österreichischen Literatur ist und in Charkiw zur Welt kam. Und ein Libretto über Wassyl Wyschywanyj (Wilhelm Habsburg-Lothringen, Anm.). Ich kann nicht mit einem Werk über österreich-ungarische Nostalgie aufwarten, aber vor 20 Jahren habe ich einmal einen großen Essay zu meiner Sicht auf das k.u.k. geschrieben. Es mag verwunderlich sein, aber in meinem Leben gibt es viel Österreich.
APA: Außerhalb der Ukraine ist der Österreichische Staatspreis für Europäische Literatur Ihre erste staatliche Auszeichnung. Wie sehen Sie den österreichischen Staat, der 2014 das erste EU-Land war, wo Wladimir Putin nach der Annexion der Krim empfangen wurde? Und wo Putin 2018 bei der Hochzeit einer Ministerin getanzt hat.
Zhadan: Ich erinnere mich. Das sorgte damals natürlich nicht für Optimismus. Aber Putin hat nicht mit dem ganzen österreichischen Volk getanzt. Regierungen kommen und gehen, und es wäre dumm, ein ganzes Land wegen des fragwürdigen Verhaltens einer Ministerin zu boykottieren.
“Es ist auch ein Krieg der Kulturen”
APA: Der Staatspreis wird am Freitag im Rahmen eines Festakts während der Salzburger Festspiele verliehen, einem Festival, bei dem es traditionell viel Russisches gibt. 2025 etwa eine Inszenierung von Kirill Serebrennikow nach Wladimir Sorokin, eine französische Produktion auf Grundlage von Leonid Andrejew oder ein Schostakowitsch-Konzert unter der Leitung des Dirigenten und russischen Staatsbürgers Teodor Currentzis, der den Krieg gegen die Ukraine nicht kommentiert. Wie sehen Sie diese Nachbarschaft?
Zhadan: Ohne Interesse und Begeisterung. Mir scheint aber, dass man das im Westen nicht ganz versteht, dass das auch ein Krieg der Kulturen ist. Für Russland ist seine Kultur eine wichtige Komponente des Projekts der “Russischen Welt”, der russischen Expansion und für revanchistische Gesinnungen. Ich kenne Sorokin und erachte ihn persönlich nicht als meinen Feind. Aber das ist keine Frage der Person. Du kannst (russischer, Anm.) Dissident, Liberaler oder Demokrat sein, bist aber trotzdem Teil eines sprachlich-kulturellen Feldes, das jene faschistisch-russische Staatsmaschine bedient, die heute ukrainische Staatsbürger tötet.
Erinnern Sie sich an die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs! Nicht alle deutschen oder österreichischen Schriftsteller unterstützten den Nazismus – Soyfer wurde etwa von den Nazis getötet. Bertolt Brecht ist dabei für mich ein wichtiger Autor: Er ist nicht nur gegen das Nazi-Regime aufgetreten, er hat seinem Land auch eine militärische Niederlage gewünscht. Er hatte verstanden, dass Deutschland nicht gewinnen darf, weil das der Sieg des Bösen wäre. Das ist für mich eine mehr oder weniger annehmbare Haltung – ein Schriftsteller oder Intellektueller tritt nicht nur für einen abstrakten Pazifismus ein, sondern nennt die Dinge bei ihren Namen. Und sagt, dass sein Land einen ungerechten Krieg führt und alle seine Mitbürger, die diesen Krieg unterstützen, an einem großen kollektiven Verbrechen teilnehmen und deshalb dafür auch kollektiv verantwortlich sind. Das gilt auch für die russische Kultur, die in einem überwiegenden Ausmaß diese Ungerechtigkeit, diese Aggression und diesen Besatzungskrieg unterstützt.
Zhadan-Oper nach Österreich?
APA: Die auf Ihrem erwähnten Libretto basierende Oper über Wyschywanyj, einen im Stalinismus getöteten ukrainophilen Habsburger, wurde 2021 in Charkiw uraufgeführt. Hoffen Sie noch auf eine österreichische Premiere?
Zhadan: Die Dekoration befindet sich im Depot in Charkiw und wartet auf bessere Zeiten. Die Theater in der Stadt sind praktisch zu, da es unmöglich ist, vor Publikum in großen Sälen zu spielen. Bei russischen Raketenangriffen käme der Luftalarm zu spät. Wir hatten jedenfalls große Pläne und wollten die Oper nach Österreich bringen – man könnte sie durchaus auch bei den Salzburger Festspielen zeigen. Aber das sind einstweilen nur Träume. Denn sehr viele Menschen aus der Kultur kämpfen im Krieg, und viele sind auch gefallen.
(Das Interview führte Herwig G. Höller/APA)
ZUR PERSON: Serhij Zhadan wurde am 23. August 1974 im Gebiet Luhansk/Ostukraine geboren, studierte u.a. Literaturwissenschaft und Germanistik, promovierte über den ukrainischen Futurismus und gehört zu den prägenden Figuren der Szene in Charkiw. Sein bisheriges literarisches Werk umfasst mehr als ein Dutzend Gedichtbände, fünf Romane und einige Erzählbände. Für “Die Erfindung des Jazz im Donbass” wurde er u.a. mit dem Brücke-Berlin-Preis 2014 ausgezeichnet, die BBC kürte das Werk zum “Buch des Jahrzehnts”. 2022 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Bei Suhrkamp erschienen deutsche Übersetzungen seiner Bücher, zuletzt der Gedichtband “Chronik des eigenen Atems” (2024) und der Erzählband “Keiner wird um etwas bitten. Neue Geschichten” (2025).
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