Von: mk
Bozen – Das Südtiroler Gesundheits- und Sozialwesen lebt nicht von teuren medizinischen Geräten und ebensolchen Verwaltungsverfahren, sondern von Menschen, die tagtäglich ihre Arbeit erledigen. Das AFI hat untersucht, unter welchen Bedingungen sie dies tun und wie es ihnen – im Vergleich zu ihren Berufskollegen in Italien, Österreich, Deutschland und der Schweiz – dabei geht. AFI-Präsident Dieter Mayr mahnt: „Aktuell herrscht aufgrund der Pandemie im Gesundheits- und Sozialwesen Ausnahmezustand. Die Mitarbeiter dürfen aber auf lange Sicht nicht über Gebühr beansprucht werden. Für die Nach-Covid-Zeit braucht es eine Grundsatzdiskussion über bessere Arbeitsbedingungen in der Branche.“
In der Corona-Pandemie stehen die Beschäftigten des Gesundheits- und Sozialwesen plötzlich im Zentrum der Aufmerksamkeit. Schlagartig wird der Öffentlichkeit bewusst, was das Gesundheitspersonal und die Bediensteten im Sozialwesen leisten und wie wichtig sie für das Funktionieren der Gesellschaft sind. In einer neuen Studie nimmt das AFI | Arbeitsförderungsinstitut die Arbeitsbedingungen der Mitarbeitenden im Gesundheits- und Sozialbereich in den Blick. Die Daten entstammen der ersten und einzigen großangelegten Studie zu den Arbeitsbedingungen in Südtirol und gehen auf das Jahr 2016 zurück. Die Methode ist deckungsgleich mit dem EWCS (European Working Condition Survey) von Eurofound.
Mit Freude bei der Arbeit
Die positiven Ergebnisse vorweg: Die Beschäftigten des Südtiroler Gesundheits- und Sozialwesens sind durchwegs mit Freude bei der Arbeit. Sie fühlen sich von Kollegen und den direkten Vorgesetzten gut unterstützt und haben in ihrer Arbeit deutlich mehr Gestaltungsspielraum als ihre Kollegen nördlich des Brenners bzw. südlich der Salurner Klause. Dazu AFI-Arbeitspsychologe Tobias Höbling: „Arbeitsfreude, Gestaltungsspielraum und gegenseitige Unterstützung – das sind die Vorzüge, die Südtirols Gesundheits- und Sozialwesen zweifelsfrei auszeichnen.“
Starke psychische und emotionale Belastungen – auch unabhängig von Corona
Eine festgestellte Schwachstelle sind die psychisch belastenden Arbeitsbedingungen, die sich aus der Arbeitsverdichtung (hohes Arbeitstempo, Termindruck) und den emotionsbedingten Belastungen (verärgerte Klienten/Patienten betreuen, Gefühle verstecken müssen) ergeben. Volle Terminkalender und alles möglichst zackzack erledigen: Südtirols Beschäftigte sind Arbeitsverdichtung ja gewohnt. Nicht umsonst liegt der Belastungspegel im Schnitt aller Wirtschaftsbereiche bei hohen 44 Indexpunkten. „Bei den Gesundheits- und Sozialberufen kommen aber die emotionsbedingten Belastungen noch obendrauf. Das stresst zusätzlich und hebt den Pegel auf 48“, weiß Tobias Hölbling.
Schlechtes affektives Betriebsklima
Die größte Baustelle im Gesundheits- und Sozialwesen ist das niedrige affektive Betriebsklima mit einem schwachen Wert von 65 Punkten (Italien: 77, Österreich: 68, Deutschland: 75). Ein schlecht entwickeltes affektives Betriebsklima führt dazu, dass sich Beschäftigte nicht mit ihrer Organisation identifizieren, im Zweifel nicht für ihren Arbeitgeber einstehen und lieber Dienst nach Vorschrift machen anstatt sich reinzuknien, wenn es die Lage erfordert. Dadurch sinkt die Qualität der erbrachten Dienstleistungen. Grund für diese schlechten Zahlen ist der Umstand, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Gesundheits- und Sozialwesen immer wieder mit unangebrachtem Verhalten (meist von Patienten und Klienten, weniger häufig von Arbeitskollegen und Vorgesetzten) konfrontiert werden.
Mitarbeiter sind keine Blitzableiter
Mehr als jeder vierte Beschäftigte in den Gesundheits- und Sozialberufen (26 Prozent) ist in den drei Monaten vor der Befragung während der Arbeit beleidigt worden. Immerhin fast jeder siebte (14 Prozent) ist im gleichen Zeitraum sogar bedroht worden. Besondere Sorgen bereitet die Angabe von mehr als jeder zehnten Person (zwölf Prozent), in den vergangenen zwölf Monaten Gewalt am Arbeitsplatz erlebt zu haben. „Diese Zahlen erklären sich in erster Linie durch die spezielle Klientel des Gesundheits- und Sozialwesens“, erklärt Hölbling. „Wer in Kontakt mit den Diensten kommt, dem geht es meist nicht besonders gut bzw. er hat alters- oder krankheitsbedingte Einschränkungen.“ Blitzableiter seien dann häufig diejenigen Personen, die sich beruflich um diese Menschen kümmern müssen/sollen.
Lösungsansätze des AFI
Im Umgang mit schwierigen Patienten sollte wo immer möglich der Druck herausgenommen werden, z.B. durch bessere Personalschlüssel zur Entlastung und spezielle Verhaltensschulungen für Mitarbeiter. Eine weitere, bereits bekannte Baustelle ist die mangelnde Anerkennung: Mit 21 Prozent geben in Südtirol erstaunlich viele Beschäftigte der Gesundheits- und Sozialberufe an, dass sie wenig oder gar keine Anerkennung für ihre Arbeit erhalten. Das ist der höchste Wert der Vergleichsgruppe und liegt auch über dem EU-Durchschnitt von 17 Prozent.