Existenzsorgen in Südtirol

Covid-19: Wie die existenzielle Krise auf die Psyche drückt

Donnerstag, 16. April 2020 | 10:39 Uhr

Bozen – Arbeitnehmer, Freiberufler und Unternehmer bangen in der Corona-Krise um ihre wirtschaftliche Existenz. Drei quälende Fragen stellen sich zuerst: Wie lange hält der Ausnahmezustand noch an? Wie schaffe ich es, finanziell über die Runden zu kommen? Was wird danach sein? Diese völlig überraschend hereingebrochene, existentielle Unsicherheit nagt stark an Gemüt und Seele. Das AFI | Arbeitsförderungsinstitut geht der Frage nach, welche Folgen das für den Menschen hat.

Die Bekämpfung der Covid-19-Pandemie verursacht bei vielen Menschen schlagartig eine tiefgreifende Verunsicherung: Wegen der angeordneten Betriebsschließungen und Ausgangssperren kommt – sei es über Nacht oder sei es in absehbarer Zeit – kein Geld mehr herein. Die Zahlungsverpflichtungen aber bleiben die alten: Kreditraten müssen weiterhin bedient, Pacht und Miete weiterhin überwiesen werden, Steuern und Abgaben sind höchstens aufgeschoben, aber nicht erlassen. Zudem fällt das Arbeiten als zentraler Lebenswert, als wichtige gesellschaftliche Anerkennung und als Garant für ein eigenständiges Leben weg. Was die Krise mit den Betroffenen macht, erklärt der Arbeitspsychologe und AFI-Forscher Tobias Hölbling.

Die neuen Existenzsorgen der Arbeitnehmer

Viele Südtiroler Beschäftigte sind seit einigen Tagen in der Lohnausgleichskasse, erhalten also insgesamt neun Wochen rund 80 Prozent ihres Lohns und sind zumindest für diese Zeit finanziell einigermaßen versorgt. Doch auch für sie stellt sich die bange Frage: Wie entwickelt sich die Lage? Kann mich mein Betrieb nach dieser Zeit in Beschäftigung halten oder rutsche ich in die Arbeitslosigkeit ab? Auch viele Unternehmer und Selbstständige stehen vor wirtschaftlichen Existenzängsten: Schon in normalen Zeiten wiegt die Verantwortung für den Betrieb schwer. Dabei geht es nicht ausschließlich um Kredite, die zurückzuzahlen sind, sondern auch um die Pflege des mühevoll Aufgebauten und um die Schicksale von Mitarbeitern und deren Familien.

Ohne Arbeit leidet auch die Seele

Für Arbeitnehmer wie auch für Selbstständige gilt: Schon allein die Angst vor Arbeitslosigkeit und erzwungener beruflicher Untätigkeit bedrängt uns. Dass Arbeitslosigkeit und psychische Gesundheit zusammenhängen, lässt sich aufgrund jahrzehntelanger psychologischer Forschung zweifelsfrei bestätigen. Jeder dritte Arbeitslose (34 Prozent) hat mit psychischen Problemen zu kämpfen, während es bei Erwerbstätigen nur etwa jeder sechste ist (16 Prozent). Dazu gehören Depressionen und Ängste, schlechtes emotionales Wohlbefinden und ganz generell mangelnde Lebenszufriedenheit. Auch das Selbstwertgefühl von Arbeitslosen ist oftmals im Keller – besonders, wenn die Arbeitslosigkeit lange andauert.

Zur Untätigkeit verdammt

Arbeit sichert nicht nur das wirtschaftliche Überleben und die so wichtige Unabhängigkeit, sondern Arbeit tut uns auch gut. Wir machen bei der Arbeit eine Vielzahl von sozialen Erfahrungen und haben einen strukturierten Tagesablauf. „Wer arbeitet, erfährt gesellschaftliche Anerkennung und sichert sich ein Leben in finanzieller Eigenständigkeit: man kann zeigen, was man draufhat und ist stolz, wenn man gute Arbeit leistet. Diese Erfolgserlebnisse steigern das Selbstwertgefühl“, so Hölbling. Arbeit ist also das Grundgerüst unserer Gesellschaft. Umso schlimmer, wenn der arbeitslose Arbeitnehmer, Freiberufler oder Unternehmer wegen der Ausgangsbeschränkungen gezwungen ist, daheim zu sitzen und wenig bis gar nichts dafür tun kann, um seine Lage zu verbessern. Der Handwerker darf nicht zu seinen Kunden, Betriebe dürfen nicht aufsperren, Bewerbungen zu schreiben erscheint in der jetzigen Lage sinnlos. Niemand weiß, wie lange diese Situation andauert, Geldsorgen drücken, die Beendigung der Maßnahmen liegen nicht in unserer Hand. “Frustration, Hilflosigkeit und Zukunftsangst sind da ganz menschliche Reaktionen auf eine Situation, die uns wenig Handlungsmöglichkeiten lässt“, sagt Hölbling.

Wer schneller hilft, gewinnt

Je länger Arbeitslosigkeit und erzwungene berufliche Untätigkeit andauern, desto mehr verschlechtert sich das Befinden der Betroffenen. Die Forschung spricht von sechs Monaten, ab denen die psychosomatischen Folgen der psychischen Belastung messbar auf den Körper durchschlagen. Aber nicht nur die Dauer der Arbeitslosigkeit ist wichtig für die Frage, wie schwer diese Auswirkungen sind, sondern auch die finanzielle Lage des Einzelnen: Wer finanziell gerüstet ist, steht eine Durststrecke auch psychisch besser durch als jemand, der schon in normalen Zeiten dauernd in Geldnöten steckt. Das gilt auch für Staaten. Gut aufgestellte Gemeinwesen können in Krisenzeiten sowohl Betrieben als auch Einzelpersonen schneller und wirksamer unter die Arme greifen. Damit lindern sie nicht nur die wirtschaftlichen und sozialen, sondern auch die psychischen Folgekosten einer Krise und schaffen damit sogar die bestmögliche Ausgangsposition für den Aufschwung danach.

Der Coronavirus-Schock und die Schuldgefühle

Vieles wird jetzt darauf ankommen, wie lange der verordnete Ausnahmezustand anhält: Die psychosomatischen Folgen von tatsächlicher Arbeitslosigkeit zeigen sich erst nach längerer Dauer. Auf struktureller Ebene wichtig: Durch kluge und umsichtige Maßnahmen können Staat und Land den Betrieben und Einzelpersonen helfen, die Krise möglichst heil durchzustehen und für den danach gewiss kommenden Wiederaufschwung gut gerüstet zu sein. „Weil die Erwerbstätigen fast aller Wirtschaftszweige von der Corona-Pandemie betroffen sind, kann niemand den Vorwurf erheben, man selbst sei an der eigenen Lage schuld. Das ist das einzig Entlastende in dieser dramatischen Zeit“, schließt Hölbling.

Von: mk

Bezirk: Bozen