Von: mk
Bozen – Demografische Entwicklungen, veränderte Lebensrealitäten und wachsende gesellschaftliche Ansprüche setzen den Wohlfahrtsstaat, in Südtirol wie in ganz Europa, zunehmend unter Druck. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Frage an Relevanz, welche wohlfahrtsstaatlichen Modelle in der Bevölkerung auf Zustimmung stoßen. AFI-Direktor Stefan Perini betont zwei zentrale Erkenntnisse der aktuellen Erhebung: „Erstens zeigt sich in jedem Politikfeld eine meist klar bevorzugte Option. Zweitens werden liberale Modelle des Wohlfahrtsstaats von Südtirols Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern entschieden abgelehnt. Bevorzugt wird ein System, das Elemente sowohl des sozialdemokratischen als auch des konservativen Regimes integriert.“
Der Wohlfahrtsstaat zählt zu den bedeutendsten gesellschaftlichen Errungenschaften der letzten 150 Jahre in Europa. Spätestens durch die COVID-19-Pandemie wurde seine fundamentale Rolle wieder deutlich – sei es im Bereich der öffentlichen Gesundheitsversorgung, der Arbeitslosenunterstützung oder bei sozialen Sicherungsmaßnahmen.
Wenig erforscht war bislang, welche allgemeinen Prinzipien und konkreten Ausgestaltungen eines Wohlfahrtsstaats von der Bevölkerung tatsächlich befürwortet werden. Aufbauend auf die klassische theoretische Typisierung der Wohlfahrtsregimes nach Gøsta Esping-Andersen (1990) beleuchtet das AFI im Sonderteil der aktuellen Ausgabe seines Barometers die Einstellungen der Arbeitnehmer und analysiert auch auftretende Unterschiede nach demografischen und sozioökonomischen Kriterien.
#1: Rente – bekommen soll man im Maße, wie man gearbeitet hat
Mit Abstand die höchste Zustimmung erhält die Aussage „Die Höhe der Rente soll sich vor allem danach richten, wie lange und in welcher Höhe jemand in die staatliche Rentenversicherung einbezahlt hat.“ Die bedingungslose Mindestrente sowie die private Altersvorsorge werden hingegen beide überwiegend kritisch betrachtet.
#2: Pflege – ein Pflegeplatz für alle, öffentlich finanziert
Auch hier erhält eine Aussage mit Abstand die meiste Zustimmung, nämlich: „Alle Menschen sollen einen Anspruch auf einen öffentlich finanzierten Pflegeplatz haben.“ Eine partielle Kostenbeteiligung findet moderate Zustimmung, während der Appell an individuelle Vorsorge durch private Pflegeversicherungen überwiegend abgelehnt wird.
#3: Gesundheit – universeller Anspruch auf öffentliche medizinische Versorgung
„Alle Menschen, die in diesem Land leben, sollen gleichen Anspruch auf die öffentliche medizinische Versorgung haben“ schneidet in diesem Bereich mit Abstand am besten ab. Demgegenüber wird die Forderung nach Selbstbehalten (z. B. Arzt- oder Ambulanzgebühren) gemischt aufgenommen. Eine weitgehende Privatisierung über ergänzende Krankenversicherungen wird dagegen mehrheitlich abgelehnt.
#4: Arbeitslosenunterstützung – beitragsabhängig bevorzugt
Obwohl hier keine der Aussagen mit Abstand dominiert, tut sich dennoch folgende Position hervor: „Die Höhe des Arbeitslosengeldes soll sich ausschließlich danach richten, wie lange und in welcher Höhe ein Arbeitsloser bzw. eine Arbeitslose zuvor Sozialbeiträge einbezahlt hat.“ Die Idee einer pauschalen Grundsicherung für alle Erwerbslosen wird differenziert gesehen, während die Option einer staatlichen Unterstützung nur im Falle drohender Armut auf klare Ablehnung stößt.
#5: Kinderbetreuung – kostenfreie Nachmittagsbetreuung hoch im Kurs
Ähnlich wie bei Rente und Pflege, hebt sich auch hier eine Option deutlich von den beiden anderen ab, nämlich die Aussage: „Die Betreuung in den Kindergärten sollte in ganz Südtirol (inklusive Nachmittag) kostenlos sein.“ Die beiden Alternativvorschläge, wonach Eltern sich zumindest teilweise oder vollständig an den Betreuungskosten beteiligen sollten, werden mehrheitlich abgelehnt.
Zur Methode
Die Messung der Präferenzen für verschiedene Wohlfahrtsregimes baut auf der Typisierung von Wohlfahrtsstaaten nach Espring-Andersen auf, welche in seiner einfachsten Ausprägung zwischen einem sozialdemokratischen, einem konservativen und einem liberalen Wohlfahrtsstaat unterscheidet. Das sozialdemokratische Regime ist geprägt von universellen, vergleichsweise hohen Leistungen, starker Umverteilung und einem aktiv gestaltenden Staat. Im liberalen Regime sind staatliche Leistungen minimal, stark reglementiert und die Eigenverantwortung steht im Zentrum. Das konservative Modell betont die Rolle der Familie, koppelt Leistungen an das Erwerbseinkommen und ist auf den Erhalt sozialer Hierarchien ausgerichtet.
Die interviewten Personen mussten in fünf Politikfeldern (Rente, Pflege, Gesundheit, Arbeitslosenunterstützung, Kinderbetreuung) ihre Zustimmung zu bzw. Ablehnung von diversen Aussagen ausdrücken, die ex-post jeweils einem der drei Regimetypen zuordenbar sind. Der Fragebogen ist angelehnt an eine repräsentative Befragung der Arbeiterkammer Wien aus dem Jahr 2018.
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