Von: luk
Bozen – Der Wertekonflikt zwischen den Generationen wird immer sicht- und greifbarer. Ohne Fleiß, kein Preis: Mit diesem Leitsatz sind bisherige Generationen aufgewachsen und erfolgreich gewesen. Doch in Folge von Pandemie, Klimakrise und Krieg, aber auch bedingt durch unterbezahlte Jobs, den Zerfall des Sozialsystems und eine für viele Leute bürgerferne Politik, macht sich bei jungen Menschen immer öfter Rückzug breit. Das erfahren die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von YoungHands bei ihrer Arbeit täglich. Ermöglicht werde dieses Phänomen durch digitale Medien. Hat der Verein HANDS im gesamten vergangenen Jahr 122 Menschen zwischen 13 und 25 Jahren mit Sucht-, Medikamenten- und Glückspielproblemen begleitet, so waren es in den ersten sechs Monaten 2023 bereits an die 100 Betroffene. Junge Menschen würden Prioritäten anders setzen, erklärt der Psychologe und Suchttherapeut von YoungHANDS Oskar Giovanelli. Viele verfahren nach dem Spruch: „Man lebt nicht um zu arbeiten, sondern man arbeitet, um zu leben.“
“Was Eltern oder ältere Generationen als problematisch und krank, als faul und kindisch empfinden, werten die betroffenen jungen Menschen als intelligente Lösung und modernen Lebensstil: Warum soll ich 40 Jahre arbeiten gehen, wenn ich nicht muss? Die digitalen Medien ändern unsere Kommunikation und unser soziales Gefüge: Wir erleben derzeit eine historische Umwälzung unserer Gesellschaft und wissen nicht, wohin das führen wird“, ist Oskar Giovanelli überzeugt.
Die Arbeit mit „zurückgezogenen“ Jugendlichen und jungen Erwachsenen habe sich seit dem Einzug der sozialen Medien in unseren Alltag, aber auch in Folge der fast drei Jahre währenden Pandemiemaßnahmen wie Lockdown und Distanzunterricht vervielfacht. Ausschlaggebend für dieses Verhalten seien zum Teil Versagensängste, Angststörungen und fehlende Stimuli, sagt der Suchttherapeut von HANDS. “In anderen Fällen liege diesem Verhalten aber eine wohl durchdachte philosophische Einstellung zugrunde, beobachtet Oskar Giovanelli. Experten könnten da nicht von einem „kranken“ Verhalten sprechen. “In einer Welt, in der mittels alter und neuer Medien kontinuierlich Ängste geschürt werden und gleichzeitig durch die digitale Entwicklung zum Treffen von Freunden, zum Einkauf, Schulbesuch oder Arbeiten das Verlassen des Hauses nicht mehr notwendig ist, scheint die Wahl dieses Lebensstils eine intelligente Lösung. Jede Generation habe einen Wertekonflikt mit der vorangegangenen Generationen, erklärt Oskar Giovanelli, aber der aktuelle Generationskonflikt scheint historisch bedeutsamer zu sein.”
YoungHANDS ist im Suchtbereich tätig. Daher geht es im ersten Schritt darum abzuklären, ob es sich bei einem Rückzugsverhalten von Jugendlichen um eine Suchterkrankung handelt oder um das Risiko, ein solches zu entwickeln. In einigen Fällen sei zwar Suchtverhalten festzustellen, oft liege diesem Verhalten aber ein anderes Problem zugrunde, sagt der Suchttherapeut: „Wir beobachten häufig einen Zusammenhang mit ADHS und Depressionen.“
Laut WHO sind Diabetes, Depression und Suchterkrankungen die Krankheiten der Zukunft, also jene Krankheiten, die das Sanitätssystem primär belasten werden. Es handelt sich dabei durchwegs um Erkrankungen, die durch unseren Lebensstil entstehen. „Wir sollten dem durch Information und Prävention entgegenwirken“, fordert Oskar Giovanelli Politik und Gesellschaft auf. “Selbstkontrolle und Selbstdisziplin werden immer wichtiger.” Das digitale Leben müsse im Gleichgewicht mit dem analogen Leben bleiben und dürfe nicht Überhand nehmen. Analytisches Denken und Kreativität müssten gefördert werden. Und Langeweile mache kreativ.
Vertrauen aufbauen
Die Jugendlichen kommen meist nach großen Konflikten und nach dem Ausschöpfen aller familiären Möglichkeiten eher unfreiwillig in die Beratung zu YoungHANDS. Daher gehe es in erster Linie darum, Vertrauen zu den Betroffenen aufzubauen, sagt Oskar Giovanelli. Fast immer führten unterschiedliche Werthaltungen zwischen Eltern und Kindern zu den Konflikten. „Für uns ist es daher unbedingt notwendig, wertfrei und neugierig in die Beziehung mit diesen jungen Menschen zu gehen.“ Wichtig seien auch eine konsequente und kohärente Haltung und das Generieren von Erfolgserlebnissen. Wenn die jungen Leute Vertrauen gewonnen haben und sich verstanden fühlen, seien sie offene Gesprächspartner*innen. „Sie kritisieren die Ungerechtigkeit der Welt, das System, das nicht mehr funktioniert und das von der ,alten Generation‘ künstlich vorangetrieben wird – eine stille Revolution sozusagen.“ Der Psychotherapeut bedauert: Dass die jungen Menschen durch den Rückzug in die eigenen vier Wände und in ihre persönliche digitale Bubble nichts aktiv an der Entwicklung ändern, sei die Kehrseite dieser nihilistischen Einstellung.
Durch digitale Medien möglich
“Mit Hilfe verschiedener Apps ist es möglich, Lebensmittel, Kleider und vieles andere online zu kaufen, außerdem Beziehungen zu knüpfen, zu arbeiten und zu lernen. Dafür muss das Haus nicht mehr verlassen werden. Das hemmt jede Motivation, sich zu bewegen. Vor dem Einzug des Internets war das nicht möglich. Wir haben mithilfe der künstlichen Intelligenz Möglichkeiten geschaffen, die uns kognitive Denk- und Arbeitsprozesse und somit auch Entscheidungen abnehmen“, sagt der Psychotherapeut von YoungHANDS. Dabei würden wir aber auch die Fähigkeit verlieren, kreativ und analytisch zu denken und Interessen zu entwickeln. Diese Entwicklung wende sich im anthropologischen Sinn teilweise gegen uns: Der menschliche Körper hat ein Skelett, eine Muskulatur, ein Hormon- und Verdauungssystem, einen Schlaf-Wach-Rhythmus. „Die sind extrem wichtig für die körperliche und psychische Gesundheit“, sagt Oskar Giovanelli. Sie würden durch den sozialen Rückzug vernachlässigt. Das ist das wohl größte Gesundheitsrisiko an dieser Lebenseinstellung. „Wir müssen offen auf Ängste und neue Werteeinstellungen eingehen, sie diskutieren und an Lösungen arbeiten“, sagt der YoungHANDS-Mitarbeiter. Der Rückzugstrend mache sich bereits auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar, wo in vielen Bereichen Arbeitskräfte fehlen und junge Leute mit Geld nicht mehr zu motivieren sind. Sie verlangen stattdessen flexible Arbeitszeiten und persönliche Freiheiten. Der Work-Life-Balance wird viel mehr Bedeutung zugesprochen als noch vor 20 Jahren.
YoungHANDS bietet jungen Menschen im Alter von zwölf bis 25 Jahren und ihren Familien Unterstützung an. Dabei werden Situationen der Abhängigkeit und des Missbrauchs von Alkohol, Drogen und Glücksspiel sowie Internetabhängigkeit bearbeitet. Im Rahmen des Dienstes wird den Menschen ein individueller und multidisziplinärer Ansatz geboten. Neben psychologischer Beratung und Therapie werden pädagogische und soziale Interventionen gesetzt. YoungHANDS befindet sich im vierten Stock der Räumlichkeiten des Vereins HANDS Onlus in der Duca-D’Aosta-Straße 100 in Bozen. Geöffnet ist die Dienststelle von Montag bis Donnerstag von 8.30 bis 12.30 und von 14 bis 18 Uhr, am Freitag von 8.30 bis 12.30 Uhr, Tel. 800720762
Zwei Beispiele aus dem Arbeitsalltag von YoungHANDS
Beispiel 1: Franz
Franz heißt eigentlich anders. Franz ist Anfang 20, Einzelkind, kommt aus einer wohlhabenden Familie der oberen Mittelschicht, hat ein Studium begonnen und abgebrochen und sitzt seit rund zwei Jahren zu Hause. Er verbringt drei Viertel seiner Zeit vor dem Computer, die restlichen 25 Prozent sind Zugeständnisse an Eltern und Gesellschaft, also Verpflichtungen, um die er nicht herumkommt. Die Eltern sind besorgt um die Zukunft ihres Sohnes. Franz versteht ihre Sorge nicht. Derzeit sei er finanziell unabhängig (Ersparnisse) und wolle leben, wie es ihm vorschwebt. Er wolle sein Leben nicht verplanen und einfach schauen, was passiert. Seine Haltung ist passiv. Das Vermeidungsverhalten kann als krank eingestuft werden, die ideologische Entscheidung ist durchwegs bewusst und konträr zum Wille der Eltern.
Beispiel 2: Christian
Wir nennen ihn Christian. Christian ist Anfang 20 und hat eine jüngere Schwester. Nach dem digitalen Unterricht – er besuchte in der Pandemiezeit die 4. und 5. Oberschule – schaffte er es nicht mehr, an einen Studienort zurückzukehren. Bereits vor der Pandemie fühlte er sich von Mitschüler*innen gehänselt, der digitale Unterricht war für ihn die ideale Lösung. Die Online-Matura schaffte er mit Bravour. Christian hatte vor, Informatik zu studieren, schaffte es aber nicht einmal, sich online für die Uni einzuschreiben oder einfache organisatorische Schritte zu setzen. Der junge Mann war übergewichtig und ungepflegt. Als ein Jahr verstrich, in dem er zu Hause untätig vor den Bildschirmen saß, spitzten sich die Konflikte mit den Eltern derart zu, dass er einsah, Hilfe nötig zu haben. Er erzählte in der Therapie von Versagensängsten und Angstzuständen. Jedes Mal, wenn er eine Entscheidung treffen musste, zog das seinen Selbstwert weiter runter. Christian hat es geschafft. Er hat seine Komfortzone verlassen und ist mehrere Monate lang in eine stationäre Therapieeinrichtung gegangen. Nach seiner Rückkehr hat er mit Hilfe von YoungHANDS verschiedene Arbeitsmöglichkeiten ausprobiert, Interessen entwickelt und seinen Weg gefunden. Der Computer bleibt heute die meiste Zeit aus. Das mit dem Studium könnte klappen.