Working poor gibt es auch in Südtirol - AFI-Tagung

Trotz Job in der Armutsfalle

Donnerstag, 22. Februar 2018 | 10:25 Uhr

Bozen – 16 Prozent der Arbeitnehmerfamilien mit nur einem Lohneinkommen leben in Südtirol an der Armutsgrenze. „Trotz des boomenden Arbeitsmarktes und des optimistischen Stimmungsbildes in allen Wirtschaftsbereichen landet der in Südtirol geschaffene Wohlstand noch nicht in den Taschen aller Arbeitnehmer”, stellt AFI-Vizedirektorin Silvia Vogliotti fest. Den working poor fehle das Geld für die notwendigsten Dinge.

Als working poor bezeichnet man Erwerbstätige, deren Einkommen an der Armutsschwelle liegt. Trotz des Aufschwungs der letzten Jahre gibt es working poor auch in Südtirol: „Wir wollen heute den ‚arbeitenden Armen‘ Raum und Stimme geben und die Problematik zusammen mit europäischen, italienischen und hiesigen Experten beleuchten“, sagt AFI-Vizedirektorin Silvia Vogliotti zur Eröffnung der Fachtagung „Working poor – Wenn arbeiten nicht reicht“. Das AFI | Arbeitsförderungsinstitut und das Meinungsforschungsinstitut Apollis haben zu diesem Zweck eine Datenbank der Michael-Gaismair-Gesellschaft von 1.228 repräsentativ ausgewählten Haushalten in Südtirol ausgewertet. „16 Prozent der Arbeitnehmerfamilien mit nur einem Lohneinkommen leben in Südtirol an der Armutsgrenze“, brachte AFI-Forschungsmitarbeiter Friedl Brancalion das markante Ergebnis seiner Auswertungen auf den Punkt.

Arbeitsmarktpolitik auf dem Prüfstand in Europa

Zum institutionellen Rahmen in Europa merkt Daphne Ahrendt von Eurofound an, dass Regierungen und Sozialpartner in Europa sich vorrangig darum bemühen, Menschen in den Arbeitsmarkt zu bringen und dabei weniger beachten, dass Arbeit nicht immer auch Auskommen bedeute. „Wenn wir nicht genauer auf die prekären Arbeitsverhältnisse, die bezahlten Arbeitslöhne und die familiäre Situation der Menschen schauen, dann könne diese Art der Beschäftigungspolitik die Armutsgefährdung von Familien sogar noch erhöhen“, so Ahrendt

In Italien: hohes Armutsrisiko bei kinderreichen Familien, Jungen und im Süden

Valentina Ferraris vom Forschungsinstitut REF in Mailand zeigt auf, dass in Italien über 2,2 Millionen Arbeitnehmerhaushalte an der Schwelle zur Armut leben. Bezogen auf Haushalte tragen das größte Armutsrisiko die kinderreichen Familien (22 Prozent der Gesamtheit), die Familien mit (wenigstens) einem teilzeitbeschäftigten Mitglied und die Familien im Süden Italiens (54 Prozent).  Unter den Arbeitnehmern sind die Ausländer (35 Prozent der working poor insgesamt) und die Unter-30-jährigen dem größten Armutsrisiko ausgesetzt.

Ursachen der Arbeitsarmut

Risikofaktoren der Arbeitsarmut seien auch in Südtirol der Anteil arbeitender Familienmitglieder, Bildungsniveau, Kinderzahl und Migrationshintergrund. „Jobs in Branchen mit prekären Arbeitsverhältnissen, schlechtbezahlte Jobs oder Jobs mit geringer Qualifikation sind Katalysatoren für die Armut von Beschäftigten und ihrer Familien“, fasste Friedl Brancalion die strukturellen Ursachen der Arbeitsarmut zusammen.

Das Geld zum Leben fehlt an allen Ecken

“Armutsgefährdete Arbeitnehmer in Südtirol tun sich schwer, die notwendigsten Ausgaben für ein würdiges Leben aufzubringen. Auch nur ein einziger Urlaub im Jahr ist für 43 Prozent der working poor unerschwinglich; 38 Prozent von ihnen ist außerstande, Ausgaben von über 1.000 Euro zu tätigen; 13 Prozent können sich eine vollständige Mahlzeit alle zwei Tage nicht leisten. „Haushaltsplanung findet kaum statt, weil sich diese Familien keine Geldmittel für Notfälle zurücklegen können“, führte Friedl Brancalion aus.

Sozialpolitik verringert Armut

Luca Critelli, Abteilungsdirektor des Landes für Soziales unterstrich in seinem Vortrag die Wirksamkeit von sozialpolitischen Gegenmaßnahmen im Kampf gegen die Armut. Die Zahlen des Landesstatistikinstituts ASTAT würden bestätigen, dass die sozialen Stützmaßnahmen die Anzahl der armutsgefährdeten Familien insgesamt von 24,7 Prozent auf 16,6 Prozent verringern. Critelli gab zu Bedenken, dass die Unterstützung auf der Wohlfahrtsseite aber auch die Gefahr berge, dass anderweitig Anreize weniger werden, etwa bei Betriebsverhandlungen, Lohnverhandlungen oder bei Besteuerungspolitik.

Am abschließenden Runden Tisch, der vom Wirtschaftswissenschaftler Thomas Benedikter moderiert wurde, vertieften Professor Mirco Tonin von der Freien Universität Bozen, Armin Erger von der Arbeiterkammer Tirol, Michela Trentini, Generaldirektorin des BSB (Betrieb für Sozialdienste Bozen) und Abteilungsdirektor Luca Critelli die Erkenntnisse aus der Fachtagung des Arbeitsförderungsinstitutes.

 

Statement von AFI-Präsidentin Christine Pichler

„Die Daten sprechen eine klare Sprache. In Südtirol leben 16 Prozent aller Erwerbstätigenhaushalte in Einkommensarmut. Zehn Jahre nach der letzten Armutskonferenz des AFI ist es nun an der Zeit, erneut das Thema Armut in die Öffentlichkeit zu tragen und Möglichkeiten für die Behebung der Schieflage aufzeigen.“

 

Mair: “Arbeit und Armut gehören nicht zusammen”

Die freiheitliche Fraktionssprecherin im Südtiroler Landtag, Ulli Mair, verweist auf die jüngste Veröffentlichung des AFI, wonach 16 Prozent der Arbeitnehmerfamilien in Südtirol mit nur einem Lohneinkommen an der Armutsgrenze leben. Die verantwortliche Politik hat es verabsäumt, steuerliche Entlastungen in die Wege zu leiten und die prekären Arbeitsverhältnisse nach den Krisenjahren einzudämmen.

„Arbeit und Armut gehören in einem wohlhabenden Land wie Südtirol nicht zusammen“, hält die freiheitliche Fraktionssprecherin Ulli Mair in einer Aussendung einleitend fest und verweist auf die jüngste Publikation des AFI. „Für dieses Missverhältnis zeichnet die Regierungspolitik in Rom verantwortlich, welche den Krisenmodus nicht überwunden hat. Die unseligen Reformen der Regierung Monti samt steigenden Steuerdruck haben viele Familien mit einem einzigen Einkommen in die Armutsfalle getrieben. Die darauffolgende PD-Regierung hat nahtlos an diese Entwicklung angeknüpft und das ‚Team Südtirol‘, wie die SVP ihre Vertreter in Rom bezeichnet, hat diesbezüglich nie korrigierend eingewirkt, sondern tatenlos zugesehen und alles mitgetragen“, hält Mair fest.

„Mit den Krisenjahren gerieten viele Familien an oder unter die Armutsgrenze und konnten in den Folgejahren der Besserung kaum vom wirtschaftlichen Aufschwung profitieren. Die Gründe liegen hierbei bei der Vielzahl an prekären Arbeitsverhältnissen und der steuerlichen Belastung“, erörtert Mair. „In den vergangenen Jahren hat es die Politik verabsäumt auf die sich geänderten Verhältnisse zu reagieren. Die Parteien in Rom waren mit sich selbst und dem Postenschacher beschäftigt, anstatt tiefgreifende Steuerreformen zu verabschieden. Beklemmend für uns Südtiroler kommt hinzu, dass wir in Sachen Steuerhoheit immer noch keine Kompetenzen haben“, betont Mair.

„Geringe Einkommen gehören umgehend entlastet und kinderreichen Familien sind Rahmenbedingungen zu bieten, die ihnen ein Leben ohne Armutsängste ermöglicht“, unterstreicht Ulli Mair. „Mit zahlreichen Anträgen hat die freiheitliche Landtagsfraktion Initiativen gestartet, um die heimischen Familien zu fördern und vom Steuerdruck zu entlasten. Vielfach konnte sich die SVP nicht dazu durchringen, die Anliegen, welche dringend nötig wären, mit zu unterstützen. Versagt haben vor allem die SVP-Arbeitnehmer“, kritisiert Mair.

„Wer für den Lebensunterhalt arbeitet, darf nicht unmittelbar von der Armutsfalle betroffen sein. Die Politik hat die Aufgabe diesem Grundsatz Rechnung zu tragen und die Voraussetzungen zu gewährleisten“, so Mair. „Die Eindämmung der prekären Arbeitsverhältnisse muss ein vorrangiges Ziel der Beschäftigungspolitik sein, um auch ein stabiles Fundament für die Zukunft unserer Jugend zu schaffen“, so Ulli Mair abschließend.

Von: luk

Bezirk: Bozen