Abschied von lieb gewonnenen Gewohnheiten – ein Kommentar

Corona: Eine neue Normalität annehmen

Donnerstag, 18. Juni 2020 | 09:56 Uhr

Bozen – Ganz langsam tritt das Virus, das uns monatelang beherrscht hat, wieder in den Hintergrund. Mit der endgültigen Öffnung der Grenzen scheint einem einigermaßen „normalen“ Sommer eigentlich nichts mehr im Wege zu stehen. Die allermeisten Südtiroler wünschen sich nichts mehr, als die vergangenen Wochen der Angst und der von oben herab verhängten, noch nie dagewesenen Einschränkungen vergessen zu machen und ihren gewohnten Sommer zu beginnen.

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Aber mit je mehr Gewalt sie sich von der Erfahrung des „Corona-Eingesperrtseins“ losreißen wollen, desto stärker hält das Virus die Menschen, die ihre eigene Unsicherheit nicht wahrhaben wollen, im Griff. Nüchtern betrachtet wäre es auch ein Wunder, wenn die Wochen fast totaler Abgeschiedenheit oder des erzwungenen Zusammenlebens in den eigenen vier Wänden keine Spuren hinterlassen hätten. Während die einen von Zukunftssorgen geplagt werden, kämpfen andere mit Partnerschaftsproblemen. Wieder andere trauern um Verstorbene, von denen sie erzwungenermaßen nicht Abschied genommen haben. Und die, die an Covid-19 erkrankt und gerade erst wieder genesen sind, horchen immer wieder in sich hinein, um sich zu vergewissern, ob alles noch wie gewohnt „funktioniert“.

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Kann es nicht sein, dass es in Südtirol zu viel ums „Funktionieren“ geht? Die Südtiroler sind nicht dafür bekannt, gerne über ihre Probleme und Unsicherheiten zu sprechen. Vielmehr wird Unangenehmes kleingeredet und schnell wieder „Vollgas“ gegeben. Aber der Mensch ist keine Maschine, bei der man einfach einen Schalter umlegt. Gestehen wir uns ein, dass gerade nach diesen Wochen und auch in Hinblick der noch nicht gebannten Gefahr die Unsicherheit ein sehr menschliches Gefühl ist und dass es vermutlich noch Monate dauern wird, bis wir wieder mit uns selbst ins Reine kommen und die neue Normalität annehmen können?

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Wer aber aus seinem „selbstverordneten Lockdown“ nicht von alleine herauskommt, sollte ruhig und ohne falsche Scham den Mut finden, sich an Fachleute zu wenden. Sie kennen dieses Phänomen und haben es bereits sehr gut beschrieben. So und anders sind wir alle dazu gezwungen, uns von bestimmten, lieb gewonnenen Gewohnheiten zu verabschieden und zumindest vorläufig eine neue Normalität anzunehmen – ein Ausdruck, den der Politikwissenschaftler Paul Sailer-Wlasits in diesen bewegten Zeiten geprägt hat. Möge uns dies auch zum Wohle unseres Gemeinwesens gelingen!

Von: ka

Bezirk: Bozen