Blatten ist fast vollständig unter Geröll begraben

Nach Gletschersturz in der Schweiz wird Flutwelle befürchtet

Donnerstag, 29. Mai 2025 | 22:56 Uhr

Von: APA/SDA/AFP/Reuters/dpa

Nach dem gigantischen Gletscherabbruch im Lötschental im Schweizer Kanton Wallis droht eine weitere Katastrophe. Ein meterhoher Damm aus Geröll, Fels und Eis verhindert den Abfluss des Flüsschens Lonza. Dahinter stauen sich immense Wassermassen. Wenn das Wasser durchbricht, droht weiter unten im Tal eine Flutwelle. In zwei Weilern wurden mehrere Häuser vorsichtshalber geräumt. Behörden rechnen in den frühen Morgenstunden des Freitags mit einer besorgniserregenden Entwicklung.

Die Schweizer Katastrophenbehörden rechnen nach dem gigantischen Gletscherabbruch im Lötschental in den frühen Morgenstunden des Freitags mit einer besorgniserregenden Entwicklung. Die gigantischen Geröllmassen haben das Flussbett der Lonza verstopft. Der See, der sich dahinter gebildet hat, dürfte “in den frühen Morgenstunden” überlaufen, wie Christian Studer von der Dienststelle Naturgefahren im Lötschental sagte.

Die Behörden prüften mit Spezialisten verschiedene Szenarien, wie die Seeentleerung stattfinden könnte, sagte Studer. “Ziel ist es, diesen Prozess möglichst gut zu antizipieren und die Sicherheit der Bevölkerung weiter unten sicherzustellen.” Im Wallis rechnet man mit dem Schlimmsten, weitere Evakuierungen werden vorbereitet.

Meterhohe Schuttschicht

Laut dem Zivilschutzsprecher Antoine Jacquod besteht “ein großes Risiko der Überflutung des flussabwärts liegenden Tals”. Wegen der nach wie vor gefährlichen Lage seien Räumarbeiten im Bergsturzgebiet derzeit nicht möglich: “Wann wir konkret eingreifen können, ist derzeit noch unklar.” Nach Behördenangaben wurde ein Stausee vorsorglich geleert, um im Fall einer Überflutung Platz für das Wasser zu schaffen. Die Schweizer Armee hält sich für weitere Notfallmaßnahmen bereit und stellt Hilfsmaterialien zur Verfügung.

Auf Drohnenbildern ist das fast ganz unter einer meterhohen Schuttschicht begrabene Dorf Blatten kaum mehr zu sehen. “Ein Tal weint”, schrieb die Online-Plattform des lokalen Medienhauses Pomona.

Suche nach Vermisstem eingestellt

Indes wurde die Suche nach einem seit dem Gletscherabbruch vermissten Mann vorläufig eingestellt. Das Gelände sei zu gefährlich für einen weiteren Einsatz der Suchtruppe, teilte die Walliser Kantonspolizei mit. Noch am Donnerstagvormittag sei intensiv nach dem im Gebiet Tennmatten vermissten Mann gesucht worden, hieß es. Gefunden wurde er aber nicht.

Ein Bergretter der kantonalen Walliser Rettungsorganisation und ein Fünferteam mit drei Hunden der Partnerorganisation Redog waren für die Suche per Helikopter ins betroffene Gebiet geflogen worden. Auch die Suche am Schuttkegel nach Hinweisen zum Vermissten brachte keinen Erfolg.

Die Sicherheitslage im betroffenen Gebiet werde ständig neu beurteilt, gab die Polizei weiter bekannt. Die Walliser Staatsanwaltschaft leitete offiziell eine Untersuchung ein.

Sorge vor Dammbruch

“Das Schlimmste wäre, dass sich Wasser aufstaut bis zur Krone des Bergsturzdammes”, sagte der Geologe Flavio Anselmetti von der Universität Bern dem Schweizer Radiosender SRF zum aktuellen Sztand der Dinge. Der Fluss könne sich dann in das Gestein-Eis-Gemisch einschneiden, der Damm instabil werden und brechen: “Dann könnten sehr starke Flutwellen oder Murgänge von diesem Seeausbruch für die Gemeinden, die im unteren Tal liegen, drohen.” Die Armee ist bereits mobilisiert. Mit Drohnen und Hubschrauberüberflügen wird die Lage stündlich beurteilt.

Einwohner unter Schock

Die rund 300 Einwohner des Dorfes Blatten haben alles verloren. 90 Prozent des Dorfes, rund 130 Häuser sowie die Kirche, sind unter einer Schuttschicht begraben. Sie sei zwischen 50 und 200 Metern dick, sagte Naturgefahrenchef Raphaël Mayoraz bei einer Medienkonferenz. Der Kegel ist zwei Kilometer lang und rund 200 Meter breit. Insgesamt donnerten nach Schätzungen drei Millionen Kubikmeter Fels, Geröll und Eis des Birchgletschers ins Tal.

Die wenigen verbliebenen Häuser sind nach Angaben der Behörden inzwischen durch den wachsenden Wasserstau der Lonza überflutet. Blatten ist das letzte Dorf im 27 Kilometer langen Lötschental. Es liegt auf rund 1.500 Metern.

Die Schweizer Überwachung der Gebirge hatte schon Mitte Mai zu Warnungen geführt, dass oberhalb des Dorfes ein Bergsturz droht. Als die Spalten im Fels schnell wuchsen, kam am 19. Mai aber doch recht plötzlich der Aufruf, das Dorf innerhalb einer Stunde zu verlassen. Viele Menschen packten in Kürze das Nötigste zusammen und verließen das Dorf.

Über Tage bröckelte in weiterer Folge der Fels und Brocken donnerten ins Tal, aber nichts davon erreichte Blatten. Bei der Evakuierung machten viele deutlich, dass sie die Vorsichtsmaßnahmen zwar schätzten, aber dennoch damit rechneten, dass das Dorf glimpflich davonkommt – wie bei ähnlichen Lagen in anderen Bergregionen.

Das schlimmste Szenario ist eingetroffen

Im Lötschental wurde dann aber das schlimmste erdenkliche Szenario Wirklichkeit. Der Abgeordnete Beat Rieder aus dem Nachbarweiler Wiler sprach im Fernsehen von einer Jahrhundertkatastrophe. “Es ist ein Ereignis, das das Tal seit Beginn der Geschichtsschreibung nie erlebt hat”, sagte er im Schweizer Fernsehen. “Die Leute haben alles verloren, was man sein ganzes Leben aufgebaut hat”, sagte er. “Man blickt auf den Bildschirm und kann nichts machen, das ist ein schwerer Schock.”

Seit die Eis- und Gerölllawine am Mittwochnachmittag mit gigantischem Getöse und einer Staubwolke wie nach einer Explosion ins Tal donnerte und Blatten unter sich vergrub, werden die Bewohner abgeschirmt und betreut. Gemeinderatsmitglieder zeigen sich vor der Presse fassungslos. Ein 64-jähriger Einheimischer war trotz Räumung am Mittwoch im Gefahrengebiet unterwegs und wird noch vermisst.

Das Lötschental galt als ein Urlauberparadies, im Sommer mit Wander- und Kletterrouten sowie Bergseen und viel unberührter Natur und mit Blick teils auf 40 Viertausendergipfel, im Winter mit kilometerlangen Skipisten. Es war bis zur Eröffnung des Lötschbergtunnels 1913 und dem Bau einer Straße in den 1950er-Jahren nur schwer erreichbar.

Finanzielle Soforthilfen für Betroffene

Mehrere Hilfswerke reagierten am Donnerstag mit finanziellen Zusagen für Soforthilfe an Betroffene. Caritas Schweiz und das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) stellten umgerechnet 430.000 Euro für ungedeckte Schäden zur Verfügung. Die Patenschaft für Berggemeinden will in Blatten mit mehr als einer Mio. Euro helfen.

Die von der Naturkatastrophe betroffenen Lötschentalerinnen und Lötschentaler erhielten zahlreiche Solidaritätskundgebungen. “Angesichts dieser Tragödie bekunden die Mitglieder der Bischofskonferenz ihre Solidarität mit allen Betroffenen und beten für sie”, schrieb etwa die Schweizer Bischofskonferenz. Unterstützung sicherte auch der FC Sion zu, wie er auf der Plattform X schrieb.”Mir stah zamu mit oich”, hieß es in der Nachricht. Nationalratspräsidentin Maja Riniker zeigte sich laut einer Kurznachricht der Parlamentsdienste auf X tief betroffen über die Ereignisse in Blatten: “Ihre Gedanken sind bei den Betroffenen. Den Rettungskräften dankt sie für ihren unermüdlichen Einsatz.” Petros Mavromichalis, EU-Botschafter in der Schweiz, schrieb auf X: “In diesen schweren Stunden sind meine Gedanken bei den Walliserinnen und Wallisern, die von der Katastrophe in Blatten betroffen sind. Ich wünsche ihnen und den Einsatzkräften, die derzeit vor Ort sind, viel Kraft.”

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