Die (wenigen) guten Seiten von Covid-19 - ein Kommentar

Neue Bescheidenheit wagen

Donnerstag, 18. März 2021 | 09:20 Uhr

Bozen – Nach einem Jahr Coronapandemie ist die Stimmung im Land auf dem Nullpunkt. Obwohl Covid-19 Südtirol eine tiefe Krise und unsägliches Leid bescherte, gebührt SARS-CoV-2 aber doch der „Verdienst“, nicht nur die Schwächen der politischen Entscheider und des Gesundheitssystems gnadenlos offengelegt, sondern auch alle Südtiroler darauf hingewiesen zu haben, dass sie nicht über der Natur stehen.

Das kleine Land, das jahrelang immer stärker wuchs und immer reicher wurde, war es gewohnt, an der Spitze zu stehen. Ganz gleich, ob In- oder Ausland blickten nahe und ferne Gegenden oft mit Bewunderung, aber nicht selten auch mit Neid auf das kleine, wohlhabende und so vorbildlich organisierte Landl.

Archiv der Südtiroler Berg-und Skiführer

Das hatte aber auch viele Schattenseiten. Kurz vor dem Ausbruch der Corona-Krise glich das Land einem gedopten Bodybuilder – vielleicht noch schön anzuschauen, aber fast bis zum Platzen künstlich aufgeblasen. Die frühere Bescheidenheit war Hochmut und Protzerei gewichen. In einem Wettrennen, wer sich das schönste Haus, den fettesten Pkw und den teuersten Urlaub leisten kann, versuchten sich viele Einheimische gegenseitig zu übertrumpfen.

Die Risse in der Wohlstands- und Wohlfühlfassade waren aber bereits vor einem Jahr unübersehbar. Die Schar, die sich schwer damit tat, im teuren Südtirol ein zumindest bescheidenes Leben zu führen, wurde immer größer. Aber die wenigen Rufer, die vor einer auseinanderklaffenden Gesellschaft warnten, blieben ungehört.

sbb

Ironischerweise genügte ein Virus, das streng genommen nicht einmal ein selbstständiges Lebewesen ist, um Südtirol und seine Bewohner mit ganzer Härte auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Das Virus erzog die Südtiroler aber auch zu einer neuen Bescheidenheit. Während der „Schließungen“ erfuhren viele Einheimische, dass das Glück – ein Wald, der kleine See, der Berg hinter dem Haus oder auch der „Sandstrand“ der Etsch – oft nur wenige Geh- oder Radminuten entfernt ist. Der Lockdown führte vielen Landsleuten auch vor Augen, wie wertvoll in Krisenzeiten eine helfende Hand und ein intaktes Familienleben sind.

Am Beginn der Pandemie wollten die meisten Südtiroler nichts lieber als so schnell wie möglich zum „Vorher“ zurückzukehren, aber nach einem Jahr Krise wird vielen Einheimischen immer stärker bewusst, dass die Erfahrung von Covid-19 und der Ausstieg aus der schwersten globalen Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg in sich die Chance birgt, es in Zukunft besser zu machen. Wir besitzen bald die Gelegenheit, ein erfolgreiches, aber zugleich ein bescheideneres, solidarischeres und umweltfreundliches Südtirol der Zukunft zu bauen. Wir müssen sie nur ergreifen.

Von: ka

Bezirk: Bozen