4.239 Betroffene in Südtirol

Seltene Krankheiten: Wenn der Doktor ratlos ist

Freitag, 28. Februar 2020 | 08:05 Uhr

Bozen – Es gibt tausende seltener Krankheiten – und die Zahl der Betroffenen steigt. Allein in Südtirol sind 4.239 Patienten von 585 verschiedenen seltenen Krankheiten betroffen. Bei 410 dieser diagnostizierten Krankheiten gibt es jeweils weniger als vier betroffene Personen.

Der 29. Februar, das seltenste Datum im Kalender, ist „Internationaler Tag der Seltenen Erkrankungen“. Eigentlich hatte der Dachverband für Soziales und Gesundheit zu diesem Anlass eine Feier mit freiem Eintritt in die Orchideenwelt in Gargazon geplant. Angesichts der jüngsten Entwicklungen im Zusammenhang mit dem „Corona“ Covid-19-Grippevirus, musste die geplante Veranstaltung am 29. Februar 2020 aber abgesagt werden, um Personen mit chronischen Erkrankungen oder geringer Immunabwehr nicht einem unnötigen Risiko auszusetzen.

„Seltene Krankheiten sind sehr unterschiedlich und dennoch gibt es viele Gemeinsamkeiten, wie Schwierigkeiten bei der Diagnosestellung, individuell verschieden ausgeprägte Symptome, wenige Therapiemöglichkeiten, Vererbbarkeit der Krankheit, wenige Kenntnisse über die Erkrankung und das Einsamkeitsgefühl der Betroffenen. Genau aus diesem Grund ist es wichtig, dass sich die Patienten vernetzen“, sagt der Generaldirektor des Südtiroler Sanitätsbetriebs Florian Zerzer. Genau darum und die Sensibilisierung der Öffentlichkeit bemüht sich der Dachverband für Soziales und Gesundheit seit mehreren Jahren. „Viele Herausforderungen der betroffenen Familien sind unabhängig vom eigentlichen Krankheitsbild. Umso wichtiger ist der Austausch untereinander“, betont Dachverband-Vizepräsidentin Dorotea Postal.

„Als Betroffene trifft man zuweilen auf viel Unverständnis und wird schief angeschaut“, erzählt Anna Faccin, die sich im Vorstand des Dachverbands und im Verein Debra engagiert: „Meine seltene Erkrankung ist, so wie viele andere, mit diversen Nebenerscheinungen verbunden. Man kämpft somit nicht nur mit der Grunderkrankung, sondern auch mit den medizinischen Folgeerkrankungen und – das ist nicht zu unterschätzen – mit den vielen Herausforderungen des Alltags.“ Die 30jährige junge Frau ist ein sogenanntes „Schmetterlingskind“ mit der angeborenen Erkrankung Epidermolysis Bullosa. Schon bei geringster Belastung bekommt sie schmerzhafte Blasen auf der Haut. Sie ist damit aufgewachsen und hat gelernt damit umzugehen. Trotzdem muss sie sich und ihr Aussehen immer wieder erklären, auch bei medizinischen Visiten. „Stets von neuem muss ich die seltene Krankheit erklären, denn meist ist es so, dass der Arzt die Erkrankung noch nie in der Praxis gesehen hat. Für diese Erklärungen braucht es Zeit. Zeit, die im Praxisalltag oft fehlt“, sagt Faccin.

Die 63jährige Passeirerin Renate Schöpf weiß hingegen erst seit zwei Jahren, dass sie an der seltenen Krankheit Alkaptonurie leidet. Schon als Kind litt sie unter ungewöhnlichen Schmerzen. Immer wieder traten in ihrem bisherigen 60jährigen Lebenweg neue Probleme auf, etwa gichtähnliche Gelenkentzündungen und Nierensteine. Bis sich dann vor zwei Jahren die Puzzleteile zusammenfügten und ihr Leiden einen Namen bekam: Alkaptonurie.

So wie Renate Schöpf tappen viele Betroffene jahrelang im Dunkeln und wissen nicht, was ihnen fehlt. Nicht selten begegnet man ihnen mit Skepsis und tut sie als Simulanten ab. Dieses Schicksal verbindet. So werden die Betroffenen und ihre Angehörigen oft selbst zu Experten – gezwungenermaßen. Sie kämpfen sich durch Studien, verfolgen klinische Versuche und tauschen sich in Selbsthilfegruppen aus.

Allein in Südtirol sind im vergangenen Jahr sieben neue Selbsthilfeinitiativen entstanden, wo Betroffene andere Gleichbetroffene suchen. Mit dazu beigetragen hat die Arbeit der seit dem Jahr 2017 bestehenden Initiativgruppe für Seltene Krankheiten im Dachverband für Soziales und Gesundheit. Betroffene und Fachleute treffen sich dort regelmäßig zum Austausch. Vor genau einem Jahr haben sie zudem mit der Webseite www.rare-bz.net ein zentrales Portal für Seltene Krankheiten in Südtirol vorgestellt, das in Zusammenarbeit mit dem Koordinierungszentrum für Seltene Krankheiten im Südtiroler Sanitätsbetrieb entstanden ist. Dort finden die Betroffenen gesicherte und überprüfte Informationen, etwa viele Infos zur medizinischen Versorgung, Kontakt-, Unterstützungs- und Vernetzungsmöglichkeiten. „Im Südtiroler Sanitätsbetrieb gibt es das Koordinationszentrum des Landesnetzes für seltene Krankheiten. Betroffene Bürger werden hier über die verschiedenen Dienste aufgeklärt – von der Diagnose über die Therapie bis hin zur Ticketbefreiung“, erklärt Florian Zerzer. Aber auch medizinischem Fachpersonal, wie Ärzten der Allgemeinmedizin, Pädiatern, Krankenhausärzten und Sanitätspersonal stehen hier Informationen über die verschiedenen seltenen Krankheiten zur Verfügung. Das Koordinationszentrum verwaltet zudem das Landesregister der Seltenen Krankheiten.

„In Südtirol gibt es heute 4.239 Patienten mit verschiedenen seltenen Krankheiten“, erklärt Dr. Francesco Benedicenti, Verantwortlicher des Südtiroler Landeskoordinierungszentrums der seltenen Krankheiten: „Insgesamt verzeichnen wir bei uns 585 verschiedene seltene Krankheiten, und bei 410 dieser diagnostizierten Krankheiten gibt es jeweils weniger als vier betroffene Personen.“ Im Vergleich zu den letzten Jahren zeigen die aktuellen Daten einen signifikanten Anstieg an diagnostizierten Patienten. „Dies ist darauf zurückzuführen, dass Ende 2017 vom Gesundheitsministerium neue seltene Krankheiten anerkannt wurden und damit viele neue Patienten in den Genuss der Ticketbefreiung gekommen sind“, erklärt Benedicenti.

„Eines der wichtigsten strategischen Ziele des internationalen Tages ist die Gerechtigkeit im Sinne der Chancengleichheit für Menschen mit seltenen Krankheiten. Der Südtiroler Sanitätsbetrieb arbeitet daher beständig daran, das Netzwerk und die Unterstützung zu verbessern, etwa durch die kostenlose Bereitstellung vieler Behandlungen, für die eine nachgewiesene Wirksamkeit bei seltenen Krankheiten vorliegt, auch wenn sie in den Grundleistungen (LEA) nicht enthalten sind“, betont Dr. Lydia Pescollderungg, Primarin der Abteilung Pädiatrie am Krankenhaus Bozen: „Die Möglichkeit, alle gesundheitlichen und pflegerischen Vorteile zu nutzen, die die Ticketbefreiung bei seltenen Krankheiten mit sich bringt, und die Möglichkeit, in vielen Fällen eine fachmännische Betreuung zu erhalten, sind zwei Elemente, die den Grad der Versorgung der betroffenen Patienten erhöhen und zur Verbesserung ihrer Lebensqualität beitragen.“

Wer Gleichbetroffene sucht, kann sich an den Dachverband wenden. Die Dienststelle für Selbsthilfegruppen unterstützt und koordiniert bestehenden Gruppen, und ist auch Anlaufstelle, wenn jemand Gleichbetroffene sucht, bzw. eine Gruppe gründen möchte. Im Dachverband gibt es zudem eine eigene Dienststelle für Patientenorganisationen, wo jene Begleitung geboten wird, die über die Selbsthilfearbeit hinausreicht. Infos: Tel. 0471 312424, www.dsg.bz.it oder www.selbsthilfe.bz.it.

Von: mk

Bezirk: Bozen