Taschendiebinnen spalten Mailand – VIDEO

Heiße Polemik: Bürgersinn oder Selbstjustiz?

Mittwoch, 15. März 2023 | 07:08 Uhr

Mailand – Taschendiebstähle, die zumeist in der Mailänder U-Bahn geschehen, sind in der lombardischen Metropole an der Tagesordnung.

Der Reporter der italienischen Satiresendung „Striscia la notizia“, Valerio Staffelli, ist mit seiner Filmcrew seit Jahren in der Mailänder U-Bahn unterwegs, um die Taschendiebinnen bei ihrer „Arbeit“ zu filmen und zu behindern. Dabei wurden Valerio Staffelli und sein Filmteam von den Taschendiebinnen, die durch die Fernsehkameras bei ihrem kriminellen Treiben gestört wurden, nicht selten von den Minderjährigen und jungen Frauen bespuckt und angegriffen.

Facebook/Valerio Staffelli

Seit Jahren erhält die Redaktion von „Striscia la notizia“ eine Vielzahl von Meldungen von verärgerten Rentnern, Studenten, Touristen, Ausländern und Arbeitern, die in der U-Bahn bestohlen wurden.

„Während die Kriminellen immer neue Tricks und Maschen aushecken, um die U-Bahnnutzer erfolgreich bestehlen zu können, leiden wir unter einem Justizsystem, das für Straftaten wie Taschendiebstahl immer geringere Strafen vorsieht. Seit dem Inkrafttreten des Cartabia-Gesetzes ist Diebstahl beispielsweise nicht mehr von Amts wegen verfolgbar. Es kommt oft vor, dass eine festgenommene Taschendiebin nach drei Stunden wieder freigelassen wird. Die Opfer überkommt ein Gefühl der Enttäuschung und Hilflosigkeit“, meint Valerio Staffelli.

Mit der laut vielen Mailändern zunehmenden Häufigkeit der Taschendiebstähle ist es in der lombardischen Metropole inzwischen zum Trend geworden, mutmaßliche oder bei ihrer „Arbeit“ in flagranti ertappte Diebinnen zu filmen und die Videos später in den sozialen Netzwerken zu veröffentlichen.

Meistens werden die Videos in den sozialen Netzwerken der Seite „MilanoBellaDaDio“ gepostet. Bei „MilanoBellaDaDio“ handelt es sich um ein Netzwerk, das die in der lombardischen Metropole herrschenden Missstände aufzeigt. Neben Videos, die negative Erscheinungen wie Verwahrlosung, illegale Müllablagerung und Gewalttaten wie zum Beispiel Schlägereien zeigen, finden sich in den Socials der Plattform auch viele Videos, in denen mutmaßliche und erwischte Taschendiebinnen zu sehen sind. Einige Taschendiebinnen, deren Gesichter in den Videos sehr gut zu erkennen sind, gelten in den Mailänder Socials mittlerweile fast als „Stars“.

Die in Mode gekommene Praxis, in der U-Bahn Taschendiebinnen zu filmen und die Videos später zu veröffentlichen, stößt aber auch auf herbe Kritik. „Bei der Angewohnheit, in der U-Bahn beim Stehlen erwischte Personen zu filmen und die Videos auf Instagram-Seiten mit Hunderttausenden von Followern zu verbreiten, handelt es sich um eine besorgniserregende Form der Gewalt. Hört auf, diese Gewalttaten als Bürgersinn zu verkaufen, denn es ist kein Bürgersinn. Indem Personen regelrecht zu Zielscheiben gemacht werden, erreicht man keine Gerechtigkeit“, forderte die Mailänder PD-Gemeinderätin Monica Romano die Macher der Seite „MilanoBellaDaDio“ auf, diese Praxis fortan zu unterlassen.

Facebook/Monica Romano

Über die Gemeinderätin ergoss sich ein unglaublicher Shitstorm. Monica Romano wurde im Netz auf massivste Art und Weise bedroht und beleidigt. Der Vorwurf, dass sie auf der Seite der Kriminalität stehe, war dabei noch die harmloseste Kritik. Die Gemeinderätin fürchtet diese Anwürfe jedoch nicht.

„Es wird ein Pranger geschaffen, dessen Folgen wir dann nicht mehr beeinflussen können. Ich befürchte, dass diese Praxis der Verbreitung dieser Videos früher oder später zu einer Tragödie führen wird. Diese Mädchen sind wahrscheinlich auch minderjährig. Niemand leugnet die Verantwortung dieser Leute, die arme Fahrgäste ausrauben, aber ich finde es unzivilisiert, dass in einem Rechtsstaat die Justiz selbst in die Hand genommen wird. Ein Telefon kann auch eine Waffe sein. Anstatt ein Video in den sozialen Netzwerken zu posten, soll es den zuständigen Behörden geschickt werden“, betont Monica Romano.

Kritiker werfen den Machern von „MilanoBellaDaDio“ auch vor, mit ihrer Seite eigene Events wie Auftritte in Diskotheken zu bewerben. Konkret soll mit den Videos indirekt auch Geld verdient werden.

Neben diesen moralischen Überlegungen handelt es sich bei diesem Trend auch um eine gesetzlich äußerst fragwürdige Praxis. In der Tat ist es laut italienischem Gesetz verboten, Fotos und Videos von verdächtigen Personen in den sozialen Netzwerken wie Facebook oder in WhatsApp-Gruppen zu veröffentlichen. Wer derartige Videos und Fotos veröffentlicht, kann unter Umständen zivilrechtlich und auch strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden. Das kann selbst dann geschehen, wenn sich später herausstellen sollte, dass die verdächtigen Personen effektiv für begangene Straftaten verantwortlich sind. Aufnahmen, die Verdächtige zeigen, sind unbedingt den Behörden zu übergeben.

Der Reporter der italienischen Satiresendung „Striscia la notizia“, Valerio Staffelli, weist auf der anderen Seite aber zu Recht darauf hin, dass die Taschendiebinnen vom Gesetz wenig zu befürchten haben. Es kommt nicht selten vor, dass sie sich wenige Stunden nach der Tat wieder auf freiem Fuß befinden. Dies geschieht, weil sich die Diebinnen die Lücken im italienischen Strafgesetz zunutze machen. Wie in den Videos zu sehen ist, handelt es sich bei den Kriminellen zumeist um schwangere Minderjährige und Frauen sowie um Frauen, die sehr kleine Kinder mit sich führen.

Facebook/Valerio Staffelli

Diese Bedingungen erlauben es den Taschendiebinnen, zumindest vorübergehend der Gefängnisstrafe zu entgehen, die sie für die begangenen Diebstähle eigentlich erhalten würden. Gemäß Artikel 146 des italienischen Strafgesetzbuches wird nämlich „die Vollstreckung einer anderen Strafe als einer Geldstrafe aufgeschoben, wenn sie erstens gegen eine schwangere Frau oder zweitens gegen die Mutter eines Kindes unter einem Jahr erfolgen soll“.

Zudem dürfen dem Artikel 275 zufolge Schwangere oder Mütter mit Kindern bis zu einem Alter von sechs Jahren nicht in Untersuchungshaft genommen werden. Dies bedeutet zwar nicht, dass schwangere Frauen oder Mütter von Kleinkindern nicht zu Freiheitsstrafen verurteilt werden können, aber sie können erst angewandt werden, wenn die Voraussetzungen dafür erfüllt sind.

Um diese Möglichkeiten des Strafaufschubs zu nutzen, sollen Informationen der Mailänder Tageszeitung Corriere della Sera zufolge kriminelle Organisationen, die auf den Taschendiebstahl spezialisiert sind, gezielt Schwangere, Wöchnerinnen und Mütter mit Kleinkindern zum Stehlen in die U-Bahn schicken.

Von: ka