Von: ka
Rom – Selbst Monate nach dem Lockdown gelingt es den meisten Italienern nicht, sich von den wirtschaftlichen, aber auch von den gesellschaftlichen sowie psychologischen Folgen des Lockdowns zu erholen.
Die angesehene „Coop-Umfrage 2020 Wirtschaft, Verbrauch und Lebensstile der Italiener von heute und morgen“ lässt keine Zweifel darüber aufkommen, dass die Coronapandemie und ihre Folgen das Leben der Italiener massiv verändert.
Die Italiener, von denen ein Drittel in nächster Zeit schwere wirtschaftliche und finanzielle Probleme erwartet, tun sich in ihrer übergroßen Mehrheit schwer, die eigene „Komfortzone“ zu verlassen. In gewisser Hinsicht ist das Bild janusköpfig. Während durch Corona die Bildungs- und Arbeitswelt – man denke nur an Smartworking und Fernunterricht – einen großen Sprung in die Zukunft macht, kehrt das Privatleben teilweise in die 50-er Jahre zurück.
Besonders die wirtschaftlichen und finanziellen Probleme trüben die Stimmung vieler Italiener. 38 Prozent der Befragten meinen, dass sie sich das nächste Jahr in diesem Bereich mit schwerwiegenden Herausforderungen auseinandersetzen müssen. Sechs von zehn Italienern, die diese Meinung teilen, glauben, dass sie zu diesem Zweck gezwungen sein werden, auf die eigenen Ersparnisse zurückzugreifen oder die Hausbank um einen Kredit zu bitten.
Dieser Umstand betrifft vor allem ärmere Familien sowie Frauen und junge Leute. Zudem wird ein Teil des Mittelstands von Abstiegsängsten geplagt. 17 Prozent der Italiener – bei ihnen handelt es sich in der Mehrheit um Männer des oberen Mittelstandes – rechnen hingegen im nächsten Jahr mit einer Besserung der eigenen wirtschaftlichen Lage. In Zahlen gegossen, kehren das italienische Bruttoinlandsprodukt pro Kopf zu in der Mitte der Neunzigerjahre gemessenen Werten und die Ausgaben für Reisen sogar auf das Niveau des Jahres 1975 zurück.
Auf der anderen Seite schreitet die Digitalisierung der Bildungs- und Arbeitswelt mit Riesenschritten voran. Gegenüber dem Vorjahr wurde beim Smartworking eine Zunahme von sage und schreibe 770 Prozent registriert. Auch Onlinesupermärkte und der gesamte elektronische Handel dürfen sich über massive Zuwachsraten freuen.
Die Corona-Krise lähmt das Land. 84 Prozent der Interviewten gibt bei der Umfrage an, wichtige Lebensentscheidungen wie Hochzeit, einen Umzug, Bau eines Hauses und Kauf einer Wohnung oder Gründung eines eigenen Unternehmens auf die nächsten Jahre zu verschieben. 36 Prozent der jungen Paare wollen für das nächste Jahr auf die Familienplanung verzichten, was zum Verlust von 30.000 Geburten führen und die jährliche Geburtenanzahl unter die psychologische Schwelle von 400.000 Lebendgeborenen drücken könnte.
Die wirtschaftlichen und finanziellen Probleme, die viele Italiener bedrücken, aber auch die Angst vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus und der Unwillen, die Corona-Einschränkungen hinzunehmen, sorgen dafür, dass immer mehr Italiener die Öffentlichkeit meiden und sich in das Privatleben zurückziehen. Dies könnte man salopp formuliert auch als Aufleben einer „neuen Biedermeier-Epoche“ bezeichnen.
Im Rahmen der Umfrage gaben die Befragten an, im nächsten Jahr die Ausgaben für Restaurantbesuche und jene für verschiedene Freizeitaktivitäten um jeweils 41 und 44 Prozent zu senken. Die Italiener ziehen es vor, Freunde und Verwandte im eigenen Haus einzuladen oder sie in ihrer Wohnung zu besuchen.
Zu diesem Bild passt auch eine andere Trendumkehr. Während die Nachfrage nach Fertiggerichten stagniert – Minus 2,2 Prozent – zieht jene nach Grundnahrungsmitteln wie Mehl, Kartoffeln oder Zucker stark an. Im Supermarktbereich werden in dieser Sparte Zuwächse von 28,5 Prozent registriert. Die stark gestiegenen Verkäufe von Küchenrobotern und anderem Küchengerät zeigt zusammen der explodierenden Nachfrage nach Grundnahrungsmitteln, dass die Italiener wieder vermehrt die Liebe zum Kochen im eigenen Zuhause wiederfinden. In der Umfrage meinen 30 Prozent der Italiener, dass sie für die Zubereitung der Speisen mehr Zeit aufwenden werden. 16 Prozent sind aber auch der Ansicht, dass dies auch ein Mittel sei, eine Ansteckung zu vermeiden. 27 Prozent geben zudem an, vermehrt regionale und biologische Nahrungsmittel zu erwerben.
Umgekehrt hat die Flucht in die eigenen vier Wände viele Schattenseiten. Besonders Jugendliche und junge Leute sind gefährdet, immer mehr Zeit vor dem Computer zu verbringen und in der eigenen „digitalen Blase“ stecken zu bleiben. Anstatt auf Plätzen und in Lokalen gleichaltrige Freunde zu treffen, findet das soziale Leben bei immer mehr jüngeren Personen fast nur mehr in den sozialen Netzwerken statt. Ihr Anteil stieg im ersten Halbjahr um 250 Prozent, sodass Experten annehmen, dass heute rund eine Million italienische Jugendliche und junge Leute von diesem Phänomen, das in Japan unter dem Begriff Hikikomori bekannt ist, betroffen sind.
Die „digitale Blase“ führt auch dazu, dass sich immer Italiener nur mehr mit Gleichgesinnten austauschen und in der eigenen „Wahrheit“, die oftmals nur aus Halbwahrheiten und Fake News besteht, stecken bleiben. Laut der Umfrage gaben 30 Prozent der Italiener an, mehr Zeit im Internet und 19 Prozent, mehr Zeit in den sozialen Netzwerken zu verbringen.
Zum Erscheinungsbild dieses „selbstauferlegten Lockdowns“ passt auch die Häufung häuslicher Gewalt. Zwischen März und Juni gingen bei der für Frauen, die Opfer von Gewalt werden, eingerichteten Notrufnummer 119 Prozent mehr Anrufe und Hilfegesuche ein. Auch 36 Prozent der Beamten der italienischen Ordnungskräfte rechnen für die nächsten drei bis fünf Jahre mit einem gewalttätigeren Gesellschaftsklima.
Viele Beobachter zeigen sich von Ergebnissen der „Coop-Umfrage 2020 Wirtschaft, Verbrauch und Lebensstile der Italiener von heute und morgen“ erschrocken.
Kurz zusammengefasst zeichnet die Umfrage ein Italien, das mit immer mehr finanziellen und wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen hat, sich immer mehr in das eigene Familienleben zurückzieht und immer mehr Zeit im Netz verbringt. Angesichts dieses trüben Bildes meinen viele Experten, dass dies die Zersplitterung der Gesellschaft und die Entsolidarisierung zwischen den Italienern fördern werde.
Andere hingegen sind erfreut darüber, dass die Italiener wieder mehr vermehrt selbst kochen und lokale Produkte und Grundnahrungsmittel erwerben.