Von: ka
Rom – Der bekannte Epidemiologe und Assessor für das Gesundheitswesen der süditalienischen Region Apulien, Pier Luigi Lopalco, sieht die seit Montag für fast ganz Italien geltenden milden Corona-Einschränkungen sehr skeptisch und übt an dem von der römischen Regierung als Entscheidungsgrundlage herangezogenen Algorithmus, der sich vor allem auf die Reproduktionszahl, abgekürzt R, stützt, harsche Kritik.
„Fast das ganze Land färbt sich gelb. Das Virus dankt“, so Pier Luigi Lopalco auf seiner Facebook-Seite. Der bekannte Virologe Massimo Galli mahnt angesichts der neuen Coronavirusvarianten ebenfalls zur Vorsicht. Zur generellen Skepsis vieler Experten dürfte auch dazu beitragen, dass viele Italiener „gelb“ leider als Freifahrtschein zu interpretieren scheinen. In den italienischen Großstädten Mailand und Rom blieb im Zentrum und in den beliebtesten Einkaufsstraßen von der sozialen Distanzierung nicht mehr viel übrig.
Abgesehen von Südtirol, Umbrien, Apulien, Sardinien und Sizilien, die weiter „orange“ mit etwas strengeren Corona-Einschränkungen bleiben, wechselte am Montag ganz Italien zur Farbe „gelb“. Die für die „gelben“ Regionen vorgesehenen, relativ milden Einschränkungen – es bleiben im Wesentlichen eigentlich nur mehr die Sperrstunde, die abendliche Schließung der Lokale sowie das Verbot, die Heimatregion zu verlassen, übrig – treiben nicht wenigen Experten die Sorgenfalten ins Gesicht.
Der bekannte Epidemiologe und Assessor für das Gesundheitswesen der Region Apulien, Pier Luigi Lopalco, kritisiert in einem Facebook-Beitrag, in dem er von einer „Diktatur des Algorithmus“ spricht, die Entscheidungsgrundlage, die sich vor allem auf die Reproduktionszahl, abgekürzt R, stützt und viele andere Faktoren in den Hintergrund drängt oder außer Acht lässt.
Die Reproduktionszahl R gibt an, wie viele Gesunde ein Infizierter nach eindämmenden Maßnahmen durchschnittlich ansteckt. Bei R handelt es sich also um einen „Ansteckungsindex“. Ist die Reproduktionszahl R unter eins, heißt das, dass eine Covid-19-positive Person im Schnitt weniger als einen Gesunden mit dem Virus ansteckt, was bedeutet, dass die Gesamtanzahl der Infizierten sinkt und die Epidemie irgendwann mit der Zeit erlischt. Liegt sie hingegen über eins, heißt das, dass von einer SARS-CoV-2-positiven Person im Schnitt mehr als ein Gesunder angesteckt wird, was bedeutet, dass die Epidemie an Fahrt gewinnt.
In seinem Beitrag gibt Pier Luigi Lopalco zu Bedenken, dass bereits die vergangene Erfahrung zeige, dass der auf die Reproduktionszahl basierende Algorithmus gefährlich sei. Zudem sei seiner Ansicht nach nicht davon auszugehen, dass Appelle an die Bürger, weiterhin vorsichtig zu sein, fruchten würden.
„Während angesichts des Winters und der Unsicherheiten, die sich aus den neuen Virusvarianten ergeben, in ganz Europa die Maßnahmen verschärft werden, setzen wir zur ihrer Lockerung nach Art des Pontius Pilatus auf einen Algorithmus. Fast das ganze Land färbt sich gelb. Das Virus dankt. Jetzt dem Virus freien Lauf zu lassen, wäre ein unverzeihlicher Fehler“, so die unmissverständlichen Worte von Pier Luigi Lopalco.
Der angesehene Virologe Massimo Galli teilt die Sorgen seines Kollegen. Auch der Leiter der Abteilung für Infektionskrankheiten des Mailänder Krankenhauses „Sacco“ schätzt die Datengrundlage, auf der die Entscheidung, fast ganz Italien als „gelb“ einzustufen, fußt, als zu dünn ein. Wie Pier Luigi Lopalco verweist auch Massimo Galli auf die schnelle Ausbreitung der neuen Virusvariante in England. „Wir haben das Problem noch nicht hinter uns gelassen“, so der angesehene Virologe.
Zur generellen Skepsis der beiden Experten dürfte auch dazu beitragen, dass viele Italiener „gelb“ leider als Freifahrtschein zu interpretieren scheinen. In den italienischen Großstädten Mailand und Rom blieben
im Zentrum und in den beliebtesten Einkaufsstraßen von der sozialen Distanzierung und den anderen Corona-Sicherheits- und Hygienemaßnahmen nicht mehr viel übrig.
Die Bilder dicht gedrängter Menschenmassen lösten auch eine bittere Polemik aus. Der Koordinator des die Regierung beratenden technisch-wissenschaftlichen Komitees(CTS), Agostino Miozzo, beschuldigte die Bürgermeister, in ihren Städten zu wenig gegen die Menschenansammlungen zu unternehmen. Miozzo rief die Bürgermeister dazu auf, zur Wahrung der sozialen Distanzierung die Ordnungskräfte einzusetzen.
Der Präsident des italienischen Gemeindeverbandes, der Bürgermeister von Bari Antonio Decaro, wies die Kritik scharf zurück und beschuldigte seinerseits Agostino Miozzo, dass er die Verantwortung auf die Gemeinden abschieben wolle.
Politischen Beobachtern zufolge zeige die bittere Polemik zwischen dem CTS und dem Präsidenten des italienischen Gemeindeverbandes eigentlich aber nur, wie blank die Nerven liegen. Allen Verantwortlichen auf allen Ebenen – so diese Stimmen – bereite „das gelbe Italien“ schlaflose Nächte, wobei ihre Hoffnung nicht zuletzt auch auf eine Beschleunigung der zuletzt schleppend verlaufenden Impfkampagne ruhe.