Von: ka
Rom/Brüssel – Die „Falken“, die hinter dem EU-Plan standen, 210 Milliarden Euro an eingefrorenen Vermögen der russischen Zentralbank als Sicherheiten für neue Kredite an die Ukraine zu verwenden, rechneten sich bis vor einer Woche gute Chancen aus, diesen Plan beim entscheidenden EU-Gipfeltreffen am 18. und 19. Dezember durchzusetzen.
In den Tagen zuvor wurde jedoch die Front der „Zweifler“ immer größer. Da mit 185 Milliarden Euro der Großteil der eingefrorenen russischen Vermögenswerte bei der Bank Euroclear in Belgien hinterlegt ist, hatte das kleine Land von Anfang an große Bedenken.

Belgiens Ministerpräsident Bart De Wever forderte eine unbegrenzte finanzielle Verpflichtung zur Absicherung des Risikos einer Klage Russlands für den Fall, dass Europa beschließen sollte, die eingefrorenen Vermögenswerte Moskaus zu verwenden. Diese Verpflichtung kam jedoch nicht zustande. Damit entfiel die Grundlage für den EU-Plan der „Falken“, der insbesondere von Deutschland forciert wurde. In der „Nacht der langen Messer” setzten sich schließlich nicht nur Italien und Belgien, sondern auch Frankreich mit ihrem „Plan B” – einer gemeinsamen EU-Anleihe – durch.

Der Gipfel am Donnerstag war der wichtigste in diesem Jahr, denn die Staats- und Regierungschefs der 27 Mitgliedstaaten mussten entscheiden, wie sie die Ukraine in den Jahren 2026 und 2027 mit 90 Milliarden Euro unterstützen können. Der Ruf der Europäischen Union stand auf dem Spiel.
Der Ausgang des Kräftemessens zwischen „Falken” und „Skeptikern” war ungewiss. Es gab jedoch einige Anzeichen dafür, dass sich die von den „Falken” abgelehnte Lösung – ein Darlehen an Kiew mit einer gemeinsamen, durch den EU-Haushalt garantierten Schuldenaufnahme – durchsetzen würde. Die gängige Meinung lautete jedoch, dass ein Reparationsdarlehen auf der Grundlage der eingefrorenen russischen Vermögenswerte die bevorzugte Option sei.

Belgien, in dem der Konzern Euroclear ansässig ist, der 185 der 210 Milliarden Euro der in der EU eingefrorenen russischen Vermögenswerte verwaltet, hat angesichts der drohenden Gefahr rechtlicher Vergeltungsmaßnahmen seitens Moskaus stets deutlich seine Ablehnung zum Ausdruck gebracht, sofern bestimmte Garantien nicht erfüllt würden. Doch erst, als die belgische Forderung nach unbegrenzten Garantien in Bezug auf Höhe und Dauer in den Schlussfolgerungen des Gipfels Gestalt annahm, wurden vielen Staats- und Regierungschefs die Unwägbarkeiten des wackeligen Plans bewusst, eingefrorenes Vermögen der russischen Zentralbank zur Besicherung eines Darlehens an die Ukraine zu verwenden. Tatsächlich hatte die Ratingagentur Fitch bereits vor Tagen für einen solchen Fall mit einer Herabstufung der Kreditwürdigkeit von Euroclear gedroht. Außerdem galt die Zustimmung der einzelnen Parlamente der Mitgliedstaaten zu den Kreditgarantien als äußerst fraglich.

In einer diplomatischen Kehrtwende hatte sich die italienische Regierung unter Premierministerin Giorgia Meloni eine Woche vor dem Gipfel dazu entschlossen, Belgien bei dessen Ablehnung des EU-Plans zu unterstützen. Meloni hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie rechtliche Risiken und finanzielle Auswirkungen fürchtet. Zu Beginn des Gipfels agierte die Ministerpräsidentin daher mit Vorsicht. In der ersten Gesprächsrunde mit den Staats- und Regierungschefs beschränkte sie sich darauf, zuzuhören, ohne sich einzumischen. All dies geschah, während die Kommission in dieser Frage offenbar Gas gab. Der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz verbündete sich mit dem Polen Donald Tusk und setzte Belgien unter Druck. Doch der belgische Premierminister Bart De Wever blieb angesichts fehlender Garantiezusagen bei seinem „Nein”.

Im Laufe der folgenden Stunden nahm hingegen der „Plan B” Gestalt an, die Ukraine durch europäische Schulden zu unterstützen. Nach einem langen Vier-Augen-Gespräch zwischen Meloni und De Wever erkannte dieser die italienische Unterstützung an und sah, dass der Plan der „Falken” vom Tisch war und eine rechtlich sicherere Lösung in greifbare Nähe rückte. An diesem Punkt deutete auch der französische Präsident Emmanuel Macron an, dass er von dieser Lösung überzeugt ist. Auch er bevorzugt eine Anleihe durch die EU, denn Frankreich fürchtet, dass Russland im Falle einer Verwendung seines Vermögens französische Beteiligungen an russischen Unternehmen im Wert von mehreren Milliarden Euro beschlagnahmen könnte.
Daraufhin fragte der Präsident des Europäischen Rates, António Costa, den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, ob er bereit sei, das Darlehen mit gemeinsamer Verschuldung zu unterstützen und kein Veto einzulegen. Orbán willigte ein, sofern sein Land davon ausgenommen ist.

Am Vorabend des Gipfels sorgte der ungarische Ministerpräsident mit seiner Ankündigung auf X für Aufsehen, die Brüsseler hätten einen Rückzieher gemacht und die Verwendung russischen Staatsvermögens stehe nicht mehr auf der Tagesordnung des EU-Gipfels. Die Kommission beeilte sich, dies zu dementieren. In Brüssel gibt es nun Stimmen, die der Meinung sind, dass Viktor Orbán die Rolle des Königsmachers gespielt habe. Er habe die anderen „Zweifler“ aus der Sackgasse befreit und den deutschen Kanzler Merz sowie die Kommissionspräsidentin Von der Leyen, die sich nachdrücklich für die Verwendung russischer Vermögenswerte eingesetzt hatten, in die Ecke gedrängt. Andere sind der Meinung, dass sich Meloni die Rolle der Königsmacherin gesichert habe.

Vielleicht war es jedoch Costa, der bereits nach dem Gipfeltreffen im Oktober versichert hatte, dass die EU einen Weg finden werde, Kiew zu helfen, ohne auf eine bestimmte Option zu bestehen. Die gemeinsame Schuldenaufnahme auf EU-Ebene, die sogenannten Eurobonds, musste jedoch die Ablehnung Deutschlands, der nordischen Länder und Orbáns überwinden. Costa übte keinen Druck aus, sondern ließ Merz und von der Leyen weiterverhandeln. Er hat sie auf dem Gipfel erwartet, den die EU zwangsläufig überstehen musste.

Sicherlich hat sich Orbán verfügbar gemacht, indem er Trump – und Putin – einen Gefallen getan hat. Am Ende wollten Deutschland und die anderen „Falken” das Risiko eines geplatzten Gipfels nicht eingehen und akzeptierten nach sechsstündigen Verhandlungen eine gemeinsame Verschuldung in Höhe von 90 Milliarden Euro. Das hätte sich noch vor wenigen Monaten niemand vorstellen können.
Die Übereinstimmung zwischen Belgien und Italien – mit stillschweigender Zustimmung Frankreichs – sowie die unerwartete Unterstützung Orbáns, der sich zuvor stets gegen eine gemeinsame Verschuldung ausgesprochen hatte, beugten den Gipfel in Richtung Eurobonds.
Giorgia Meloni zeigte sich nach dem Gipfel sehr zufrieden. Ihre Linie, russische Vermögenswerte wegen des damit verbundenen Risikos nicht anzutasten, setzte sich durch. Zudem schafft die Ausgabe gemeinsamer EU-Anleihen zur Finanzierung der Ukraine einen Präzedenzfall, von dem Italien und andere EU-Länder womöglich in Zukunft profitieren könnten – etwa bei der Aufrüstung. Der Held des Tages war jedoch der Belgier Bart De Wever.





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