„Overtourism der Hungerleider“ entzweit Venezianer – VIDEO

„Sie teilen sich einen Teller Nudeln und kaufen nichts“

Montag, 28. Juli 2025 | 08:06 Uhr

Von: ka

Venedig – Nicht nur in Gröden mit seiner Seceda, wo die Einheimischen empört und kopfschüttelnd auf die lange Warteschlange vor der Seilbahn blicken, sondern auch die Einwohner der vielleicht schönsten Stadt der Welt, die Venezianer, beklagen sich über den immer stärker werdenden „Overtourism“.

Trotz der Einführung des umstrittenen Gebührensystems für Tagestouristen steigen die Besucherzahlen stetig an. Kritisiert wird jedoch neuerdings weniger die schiere Masse der Touristen, sondern vielmehr, dass die überwiegende Mehrheit von ihnen „Hungerleider ohne Interesse für Kultur und die Schönheit der Stadt“ sind. „Sie teilen sich einen Teller Nudeln und kaufen nichts“, erklärt Setrak Tokatzian, der Präsident des Vereins Piazza San Marco. Tokatzian schlägt eine massive Erhöhung der „Eintrittskarte“ vor, stößt damit aber auf heftige Kritik.

Facebook/Comune di Venezia

Die Billigtouristen reisen günstig, kommen mit dem Zug oder von den Campingplätzen an der Küste und gönnen sich höchstens ein Stück Pizza oder ein Eis, das sie im Stehen oder zwischen den Denkmälern von San Marco verzehren, bevor sie die Piazza betreten. Meistens stärken sie sich jedoch unterwegs in einem der vielen Supermärkte, die zwischen Bahnhof, Piazzale Roma, Rialto und San Marco geöffnet sind. Wenn sie ein Souvenir kaufen, dann handelt es sich zumeist um billigsten Ramsch zweifelhafter Herkunft. Die Händler, die Glas oder sonstige Gegenstände aus wertvoller, lokaler Handwerkskunst anbieten, bleiben hingegen auf ihrer Ware sitzen. Zu allem Überdruss müssen sie sich auch noch darüber ärgern, dass ihre Schaufensterauslagen als beliebte Fotomotive dienen.

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Mit gewissen Touristen befindet sich Venedig gefühlt in einem ständigen „Krieg“. Nachdem sich die Stadt in den vergangenen Jahren gegen respektlose und ungebildete Touristen zur Wehr gesetzt hat – darunter diejenigen, die mitten in der Stadt picknicken, in den Kanal springen oder im Bikini durch die Lagunenstadt flanieren –, hat sich in diesem Sommer, der im Juni von Protesten gegen die VIP-Hochzeit des Amazon-Chefs Jeff Bezos geprägt war, eine neue Front im Kampf gegen den Übertourismus eröffnet. Im Zentrum der Kritik stehen aber jene Besucher, die nichts ausgeben, aber die Schönheiten des Markusplatzes genießen, ohne der Stadt einen wirtschaftlichen Gewinn zu bringen.

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Setrak Tokatzian, der neue Präsident des Vereins Piazza San Marco, in dem die historischen Cafés, Juweliere und Glasbläser organisiert sind – also die Vertreter des Luxus „Made in Venice” –, gehörte zu den ersten, die die Flut von Billigtouristen mit harten Worten kritisierten. „Wir erleben eine noch nie dagewesene Explosion des Tourismus mit Menschen, die umherwandern, ohne die Geschäfte zu betreten, und überhaupt nicht wissen, wo sie sind. Sie teilen sich einen Teller Nudeln und kaufen nichts. Es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber dieser Tourismus ist obszön“, sagte Tokatzian in einem Interview mit dem Corriere del Veneto.

Während bis vor einiger Zeit noch eine bessere Steuerung der Besucherströme gefordert wurde, schlägt Tokatzian nun vor, von den Tagestouristen 100 Euro zu verlangen. „Eine hohe Eintrittsgebühr würde Abhilfe schaffen”, glaubt der neue Präsident des Vereins Piazza San Marco.

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Doch der provozierende Vorschlag stieß sofort auf heftige Kritik. Auch Bruno Barel, der erste Prokurator der Basilika San Marco, ist kein Freund des Vorschlags eines 100-Euro-Eintrittspreises. „Die Stadt ist demokratisch und ihre Gemeinschaft war schon immer klassenübergreifend. Ich bin nicht davon überzeugt, dass viele ein Venedig nur für Wohlhabende oder Menschen wie Jeff Bezos wollen. Schönheit ist universell. Sie ist für Feinschmecker, aber auch für diejenigen, die sich noch verfeinern lassen. Für einfachere und bescheidenere Menschen, die etwas von der Magie der Lagunenstadt mit nach Hause nehmen möchten“, sagt Barel und spricht sich damit gegen höhere Zugangsgebühren aus.

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Tatsächlich hat die Prokuratur von Venedig seit Anfang Juli den Zugang zur Basilika revolutioniert: Es herrscht eine Online-Reservierungspflicht, und die Eintrittskarte kostet zehn Euro und beinhaltet den Zutritt zu 40 weiteren Kirchen Venedigs. „Die endlosen Warteschlangen sind verschwunden. Wir haben Platz auf der Piazza geschaffen und Zeit. Die Touristen haben nun zwei oder drei Stunden mehr Zeit, um Venedig zu besichtigen und einzukaufen“, freut sich der erste Prokurator der Basilika San Marco.

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Nicht alle Vereinsmitglieder stehen Tokatzian positiv gegenüber, angefangen bei seinem Vorgänger Claudio Vernier, dem ehemaligen Vorsitzenden des Verbandes. „Ich verstehe zwar den Unmut, aber sie spiegeln nicht die Werte unseres Verbandes wider“, betont dieser. An der Tatsache des kriselnden Geschäftslebens ändern seine Worte jedoch nichts. „Wir erleben eine schwierige Zeit. Viele fotografieren die Schaufenster, aber sie kommen nicht in die Geschäfte“, seufzt Roberto Panciera, Präsident des Handelsverbands Confcommercio von Venedig.

„Im Juli und August kommen seltener Besucher mit hoher Kaufkraft in die Kunststädte. Aber das Luxussegment befindet sich überall in Schwierigkeiten, nicht nur in Venedig“, betont Venedigs Tourismusassessor Simone Venturini. Er fügt hinzu, dass Tokatzis Forderung ohnehin nicht umsetzbar sei, da das Gesetz keine Eintrittsgebühren von mehr als zehn Euro vorsehe. „Es ist jedoch kein Tabu, eine Gesetzesänderung zu beantragen, indem man sich auf die Besucherzahlen stützt. Zum Beispiel zehn Euro für die ersten 20.000 Touristen pro Tag und 15 bis 20 Euro bei Überschreitung dieser Schwelle. Lasst uns darüber sprechen“, lässt Venturini eine Hintertür offen.

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Ein immer wieder laut werdender Vorschlag ist, das lokale Handwerk stärker zu fördern und den Kampf gegen Fälschungen – etwa von Murano-Glas – mit größerer Härte zu führen. „In einigen Bereichen wurde vielleicht zu viel Druck ausgeübt, aber die Stadt ist kulturell sehr lebendig, und darauf muss man setzen, auch mit den jungen Menschen“, gibt sich Bruno Barel hoffnungsvoll. Tatsächlich verlangt die Prokuratur von Schulklassen keinen Eintritt für die Basilika, denn „Schönheit ist universell“.

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Letztendlich ist jedoch entscheidend, wie viele Touristen echte, teure venezianische Kunsthandwerke kaufen. Eine bis zum Bersten volle Stadt, in der die Läden aber verweist bleiben, ist auf Dauer weder den Händlern noch den einfachen Venezianern zumutbar.

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