Gericht kürzt Schadenersatz um 30 Prozent – VIDEO

Skandalurteil: „Erdbebenopfer zum Teil selbst schuld“

Donnerstag, 13. Oktober 2022 | 08:04 Uhr

L’Aquila – Die italienische Öffentlichkeit wird von einem Urteil erschüttert, das nicht nur die Angehörigen der Erdbebenopfer, sondern auch viele Italiener für einen Skandal halten. Dem Richterspruch zufolge hätten sich jene Jugendlichen, die nach einigen kleinen Erdstößen zum Schlafen im Gebäude geblieben waren, „leichtfertig verhalten“. Beim Einsturz des betreffenden Gebäudes in L’Aquila – es hatte sich um ein Studentenwohnheim gehandelt – waren am 6. April 2009 insgesamt 29 Menschen, zumeist junge Leute, ums Leben gekommen.

ANSA/CLAUDIO PERI-MASSIMO PERCOSSI

Die Angehörigen der Erdbebenopfer, die vor 13 Jahren, am 6. April 2009, bei einem Einsturz eines Gebäudes ihr Leben verloren hatten, werden zwar eine Entschädigung erhalten, aber da das Gericht den Opfern eine Mitschuld an ihrem traurigen Schicksal zusprach, die mit einem Anteil von 30 Prozent beziffert wurde, werden sie sich dem Urteil zufolge mit einem um den gleichen Anteil gekürzten Betrag vorliebnehmen müssen.

Die Entscheidung über die „Mitschuld“ wurde vom Zivilgericht von L’Aquila getroffen. Richterin Monica Croci gab dem Antrag auf Entschädigung statt, den die Familien einiger Opfer des Einsturzes des sechsstöckigen Gebäudes in L’Aquila gestellt hatten. Sie kürzte sie aber um 30 Prozent. Aus dem Schutt des Hochhauses waren damals 29 Todesopfer geborgen worden.

Facebook/”23 Secondi” Una Storia – Terremoto L’Aquila 6 aprile 2009

Der Richterin verurteilte den Erbauer des Gebäudes und seine Erben sowie die beteiligten Ministerien, nämlich die Ministerien für Infrastruktur und Inneres, zur Zahlung von Schadenersatz. Während die Schuld der Erben des Erbauers am Tod der Erdbebenopfer, so Richterin Monica Croci in ihrem Urteil, bei 40 Prozent liegt, müssen die beiden römischen Ministerien für die Versäumnisse des Bauamtes und der Präfektur jeweils für 15 Prozent der Gesamtschuld die Verantwortung übernehmen.

Dem Urteil zufolge sind für die restlichen 30 Prozent der Schuld aber die Opfer selbst verantwortlich. „Da es objektiv ein leichtfertiges Verhalten darstellt, trotz des bekannten Auftretens von zwei Beben am Abend des 5. April und kurz nach Mitternacht am 6. April im Gebäude zu übernachten, ist der Einwand des Mitverschuldens der Opfer begründet“, so die Richterin Monica Croci in ihrer Urteilsschrift.

Facebook/”23 Secondi” Una Storia – Terremoto L’Aquila 6 aprile 2009

Der Richterspruch, nach dem die Erdbebenopfer zu einem Anteil von 30 Prozent selbst schuld an ihrem Tod seien, ließ nach der Verkündigung des Urteils die Wogen hochgehen. Insbesondere die überlebenden Angehörigen der Opfer zeigten sich entsetzt.

Morti nel terremoto dell'Aquila, per il Tribunale è anche colpa loro

Morti nel terremoto dell'Aquila, per il Tribunale è anche colpa loroIl Tribunale civile dell'Aquila taglia i risarcimenti alle vittime del crollo di un palazzo nel terremoto del 2009. Una riduzione del 30 per cento per concorso di colpa, per non essersi messi al sicuro dopo le prime scosse. I familiari al Tg3: "Una sentenza ripugnante". L'inviato Riccardo Porcù per il Tg3 delle 19 del 12 ottobre 2022

Posted by Tg3 on Wednesday, October 12, 2022

„Es ist ein Urteil, das, um es freundlich auszudrücken, absurd scheint“, kommentiert wütend die Anwältin Maria Grazia Piccinini aus Lanciano bei Chieti. Die Tochter Maria Grazia Piccinini, die Studentin der Ingenieurskunst Ilaria Rambaldi, war am 6. April unter den Trümmern des sechsstöckigen Studentenwohnheims ums Leben gekommen. Heute ist ihre Mutter Vorsitzende des Erdbebenopfervereins „Ilaria Rambaldi Onlus“.

Facebook/Studio Legale Avv. Maria Grazia Piccinini

„Nachdem ich auf das Urteil fast 14 Jahre gewartet habe, entdecke ich heute, dass damals in L’Aquila alle ‚angehende Selbstmörder‘ gewesen sind. Es ist eine unendliche Schande, den Opfern die Schuld zu geben, denn das bedeutet, dass man die Geschichte dieses Erdbebens und die Ereignisse, die der Katastrophe vorausgegangen sind, nicht kennt. Es handelt sich um eine fantasievolle Rekonstruktion, die vorgefasste Ansichten enthält. Es ist 3.32 Uhr morgens gewesen. Wo sollte meine Tochter sein, wenn nicht im Bett? In L’Aquila sind nach den ersten Beben alle nach Hause gegangen. Es hat keinen Alarm gegeben. Genauso wenig hat ein Zeltlager existiert, wohin man hätte flüchten können. Wohin sollte meine Tochter gehen? Es ist unerhört“, so die enttäuschte und entsetzte Mutter, deren Tochter beim Beben getötet worden war. Maria Grazia Piccinini kündigte an, in die Berufung gehen zu wollen.

Vonseiten der Familienangehörigen der Erdbebenopfer waren nach der Tragödie Gutachten vorgelegt worden, die Konstruktionsmängel am Gebäude bestätigt hatten. Dabei waren dem zuständigen Tiefbauamt, das für die Überwachung der Wahrung erdbebensicherer Konstruktionsstandards verantwortlich gewesen war, „schwere Versäumnisse“ vorgeworfen worden. Die Angehörigen hatten deshalb zusätzlich zu den Erben der bereits verstorbenen Bauherren auch das Ministerium für Infrastruktur und Verkehr sowie die Stadtgemeinde von L’Aquila verklagt.

Facebook/Ilaria Rambaldi ONLUS/Ilaria Rambaldi

Die Kläger erhielten in vielen Anklagepunkten Recht. Das Gericht erkannte jedoch die Mitverantwortung der klagenden Opfer in Höhe von 30 Prozent an. Die Richter gelangten zur Erkenntnis, dass es unvorsichtig gewesen war, nach dem zweiten kleineren Beben, das sich zweieinhalb Stunden vor dem großen Beben um 3.32 Uhr ereignet hatte, nicht ins Freie zu fliehen.

Diese Entscheidung, die den Opfern eine Mitschuld zuspricht und in der Folge zu einer Kürzung der Entschädigung führen wird, löste bei den Angehörigen Wut und Enttäuschung aus.

Von: ka