Verärgerter und nachdenklich Arzt schreibt offenen Brief – VIDEO

„Volle Krankenhäuser und überfüllte Plätze, wir sind sprachlos“

Dienstag, 27. April 2021 | 07:59 Uhr

Florenz – Besonders die in den „gelben“ Regionen wohnhaften Italiener freuen sich über die seit Montag geltenden Lockerungen. Die Bilder voller Straßen, Bars und Plätze stimmen aber nicht wenige Ärzte, die noch viele Corona-Patienten behandeln müssen, nachdenklich.

Lokal, Bar, Pizza, Pizzeria, ANSA/Andrea Fasani

Diesen verärgerten Medizinern gibt der Präsident der Florentiner Ärztekammer, Pietro Dattolo, eine Stimme. „Die Krankenhäuser sind voll und die Plätze überfüllt, wir sind sprachlos. Der Schutz der Gesundheit ist einer der Grundpfeiler unserer Verfassung, aber dieses Prinzip scheint sich nur auf die Krankenhausabteilungen zu beschränken“, so Pietro Dattolo in einem offenen Brief.

Wie vom Dekret des Ministerpräsidenten Mario Draghi vorgesehen, ist seit Montag fast ganz Italien wieder „geöffnet“. Während besonders die in den „gelben“ Regionen wohnhaften Italiener sich über die Lockerungen freuen, treiben die Bilder überfüllter Bars, Restaurants und Straßen nicht wenigen Ärzten Sorgenfalten auf die Stirn. Zudem sind die in Florenz stattgefundenen Proteste gegen die abendliche Sperrstunde bei den Ärzten auf viel Unverständnis gestoßen. Um die italienische Öffentlichkeit vor der weiterhin bestehenden Gefahr zu warnen und den Italienern die fortdauernd angespannte Lage in vielen Krankenhäusern zu schildern, hat der Präsident der Florentiner Ärztekammer, Pietro Dattolo, einen offenen Brief geschrieben.

Facebook/Alberto Zangrillo

„Es ist klar, dass sich jetzt die Prioritäten geändert haben, sonst könnten wir uns die Menschenmassen auf den Straßen nicht erklären. Der Schutz der Gesundheit ist eine der Säulen unserer Verfassung, aber dieses Prinzip scheint nur auf die Krankenhausabteilungen beschränkt zu sein. Sagt uns, was wir den Familien, die uns anrufen, oder den allein gelassenen älteren Menschen, die traurig aus dem Fenster schauen, sagen sollen. Uns fehlen die Worte“, schreibt Pietro Dattolo.

ANSA/Andrea Fasani

„Es ist fast Nacht. Wir versuchen, eine 50-jährige Frau zu retten, die einen Anfall erlitten hat. Sie kann nicht mehr atmen. Um sie mit Sauerstoff zu versorgen, haben wir durch ihre Luftröhre einen Schlauch gelegt. Nach vielen Arbeitsstunden ist das Gesichtsschutzvisier mit Schweiß beschlagen, aber wir können uns keinen Fehler erlauben. Ihre Brust liegt frei. Während wir die Elektroden wieder anbringen, beobachten wir die grünen Kontrollleuchten des Elektrokardiogramms. Covid-19 und die Lungenentzündung sind dabei, ihr das Leben zu nehmen. Eine halbe Stunde vergeht und wir bekommen einen Anruf von ihrer Tochter. Sie will wissen, wie es ihr geht“, so die Schilderung des Mediziners.

Twitter/Pietro Dattolo

„Wir können nicht lügen, aber wir haben keine Antwort. Sie fährt fort, nach dem Zustand ihrer Mutter zu fragen, und bleibt in der Warteschleife. Es ist eine lange Stille, die uns im Herzen schmerzt. Auf dem Korridor leuchten nur wenige Lichter. Wir hören die Sirenen eines Krankenwagens, der vor der Notaufnahme anhält. Wir schauen uns um, die Zimmer sind alle voll. Er wird warten müssen“, so Pietro Dattolo, der den oftmals traurigen Krankenhausalltag in seiner Abteilung beschreibt.

Die 50-jährige Corona-Patientin bleibt an diesem Tag aber nicht der einzige Notfall. „In Zimmer drei erleidet ein Herzpatient eine Krise. Zwei mit einem blauen Ganzkörperschutzanzug bekleidete Krankenpfleger eilen herbei, um mir und ihren Kollegen zu helfen. Am Ende des Korridors hat jemand den Fernseher eingeschaltet. Zugleich sehen wir überfüllte Plätze, auf denen Jugendliche und junge Leute mit heruntergezogenen Mundschutzmasken mit der Flasche in der Hand feiern und in großes Gelächter fallen. Ein weiterer Krankenwagen trifft ein. Infolge eines Todesfalls in Zimmer elf ist diesmal ein Bett freigeworden. Wir fangen von vorne an“, abschließend der Präsident der Florentiner Ärztekammer, der die italienische Öffentlichkeit auf den krassen Gegensatz zwischen feiernden Menschenmassen und den erlebten Alltag in seiner Krankenhausabteilung hinweisen will.

Trotz der nach langen Lockdown-Wochen überschäumenden Lebensfreude vieler Italiener bleiben die mahnenden Worte des Florentiner Mediziners nicht ungehört. Die Ärzte, die die Covid-19-Patienten behandeln müssen, gönnen den Italienern gerne die Öffnungen. Sie warnen aber davor, die Corona-Hygiene- und Schutzmaßnahmen zu vernachlässigen. Solange neue SARS-CoV-2-Varianten lauern und die meisten Italiener noch nicht geimpft sind, ist es noch lange zu früh, um Entwarnung zu geben.

Von: ka