Angehörige von Covid-19-Toten hinterlegen Anzeigen – VIDEO

“Wir werden anzeigen”: Wahrheit und Gerechtigkeit für Corona-Opfer verlangt

Donnerstag, 11. Juni 2020 | 08:04 Uhr

Bergamo/Mailand – In der Lombardei wird die Kritik am katastrophalen Krisenmanagement der politischen Verantwortlichen immer lauter. Immer mehr Lombardinnen und Lombarden, die während der Covid-19-Epidemie ihre Männer und Frauen oder ihre Mütter und Väter verloren haben, wollen sich nicht mehr mit Ausflüchten abspeisen lassen. Angesichts des verheerenden Ausmaßes der Coronaepidemie in der Lombardei – in der norditalienischen Region wurden bisher mehr als 16.000 Corona-Tote gezählt, was fast der Hälfte aller italienischen Todesopfer entspricht – werden die Rufe nach politischen Konsequenzen immer lauter.

Aus einer kleinen Facebook-Gruppe heraus, „Noi Denunceremo“(„Wir werden anzeigen“, Anmerkung der Redaktion), die während der dunkelsten Tage der Coronaepidemie gegründet worden war, um traurige Einzelschicksale zu sammeln, ging im Laufe der folgenden Wochen ein Komitee hervor, das heute rund 55.000 Mitglieder zählt. Die ersten 40 Mitglieder, die ihre Eltern oder Ehepartner verloren hatten, machten am Mittwoch ernst und hinterlegten ihre Anzeigen. Weitere 150 Anzeigen sind derzeit in Vorbereitung und werden in den nächsten Wochen folgen.

Ci siamo!

Pubblicato da Noi Denunceremo su Martedì 9 giugno 2020

„Das Komitee „Noi Denunceremo – Wahrheit und Gerechtigkeit für die Opfer von Covid-19“ wurde aus dem Bedürfnis heraus geschaffen, Gerechtigkeit und Wahrheit zu erlangen, um unseren Toten, die kein würdiges Begräbnis bekommen haben, Frieden zu geben. Die die Fehler gemacht haben, werden auf unsere Fragen antworten und sich ihrer Verantwortung stellen müssen. Wir verlangen Gerechtigkeit“, so das Komitee auf ihrer Internetseite.

ANSA/ FILIPPO VENEZIA

Am Mittwoch, dem 10. Juni machten 40 Mitglieder ernst und hinterlegten bei der Staatsanwaltschaft die ersten Anzeigen. Auffallend viele Frauen und einige Männer standen mit ihren Papieren und Ausweisdokumenten vor der Tür der Staatsanwaltschaft von Bergamo an, um sie den Untersuchungsrichtern vorlegen zu können. In ihren Augen war die Anspannung und der Schmerz jener zu erkennen, die innerhalb weniger Tage und Wochen ihren Vater, ihre Mutter oder ihren Ehepartner durch Covid-19 verloren hatten.

„Wir sind zur Staatsanwaltschaft gegangen, um Antworten zu erhalten, die uns bisher keiner gegeben hat. Wir haben es bereits gesagt und wir wiederholen es: Keiner von uns hat etwas gegen die Ärzte oder die Pflegekräfte, ganz im Gegenteil. Sie haben wir gebeten, sich an unsere Seite zu stellen. Wir bitten aber die Richter, herauszufinden, was auf verwaltungstechnischer und auf institutioneller Ebene geschehen ist“, so die Apothekerin Cristina Longhini, die am 19. März ihren Vater Claudio verloren hatte.

Laut dem Präsidenten von „Noi Denunceremo“, Luca Fusco, der nach dem Tod seines Vaters das Komitee ins Leben gerufen hatte, traf die Politik eine Reihe von Fehlentscheidungen. „Eine davon war jene, am 23. Februar die Valseriana nicht zu einer Roten Zone zu erklären. 15 kriminelle Tage hindurch – bis zum 8. März, als die gesamte Lombardei zur orangen Zone erklärt wurde – ging in der Provinz Bergamo das normale Leben weiter, wodurch dem Virus ideale Voraussetzungen für seine Verbreitung geboten wurden“, kritisiert Luca Fusco.

Pubblicato da Noi Denunceremo su Mercoledì 10 giugno 2020

Die Frauen und Männer, die am Mittwoch ihre Anzeigen hinterlegten, und die die es in den kommenden Wochen tun werden, werden sich auf eine lange Wartezeit einstellen müssen. Es wird eine sehr lange Zeit brauchen, um alle Ermittlungen durchführen und mögliche Verantwortlichkeiten feststellen zu können. Die Mühlen der Justiz mahlen langsam, aber sie mahlen. Im Fall der nicht erfolgten Schließung des Krankenhauses von Alzano Lombardo und der nicht durchgeführten Errichtung der Roten Zone um Nembro und Alzano in der Val Seriana hört die Staatsanwaltschaft von Bergamo am Freitag Ministerpräsident Giuseppe Conte, Gesundheitsminister Roberto Speranza und Innenministerin Luciana Lamorgese an. Vor wenigen Tagen hat die gleiche Staatsanwaltschaft zum selben Fall den Präsidenten der Region Lombardei, Attilio Fontana, und den Assessor für das Gesundheitswesen der Region, Giulio Gallera, vorgeladen.

Angesichts des verheerenden Ausmaßes der Coronaepidemie in der Lombardei geraten besonders die Spitzen der Region immer stärker ins Visier der Ermittler und der lombardischen Bevölkerung. Die ersten 40 Einbringer der Anzeigen, die vor dem Eingang des Justizgebäudes von Bergamo Journalisten von den traurigen Schicksalen ihrer Angehörigen berichteten, hoffen, dass ihr Engagement zur Wahrheitsfindung beiträgt. Allein die schieren Zahlen – in der norditalienischen Region wurden bisher mehr als 16.000 Corona-Tote gezählt, was fast der Hälfte aller italienischen Todesopfer entspricht – scheinen zu beweisen, dass der Tod ihrer Eltern und Ehepartner nicht allein nur mit „Schicksal und Unvorhersehbarkeit“ zu erklären ist.

Zudem hoffen die Einbringer, dass sich in ganz Italien zu ihnen weitere mutige Menschen gesellen werden, die sich nicht einfach mit dem Tod ihrer Angehörigen abfinden wollen. Ob zu ihnen auch Südtiroler zählen werden?

Von: ka