Von: mk
Bozen – Mit dem heutigen 4. Dezember tritt das sogenannte Salvini-Dekret in Kraft. Neu geregelt werden sollen die Normen zum Internationalen Schutz, zur Immigration und zur öffentlichen Sicherheit. Gemeinsam mit der oew haben sich insgesamt 17 Organisationen in Südtirol aus diesem Grund in einem offenen Brief an Landeshauptmann Arno Kompatscher und die Landesrätin für Sozialwesen, Martha Stocker, gewandt, da sie eine Zunahme von Obdachlosigkeit und Marginalität befürchten.
Im Schreiben fordern die Organisationen eine „vorausschauende und nachhaltig wirksame Politik des Zusammenlebens“ und erwarten sich einerseits eine Einflussnahme auf den Gesetzgeber in Rom, andererseits konkrete Schritte, um die Konsequenzen der neuen Norm vor allem in den Südtiroler Gemeinden abzufangen.
Den Brief unterzeichnet haben folgende Vereinigungen: ANPI, Antenne Migranti, Gesellschaft für bedrohte Völker, Bibliothek Kulturen der Welt, Binario 1, Caritas Diözese Bozen-Brixen, Haus der Solidarität, AGB Südtirol, Emergency Bolzano, Alexander Langer Stiftung, Forum per cambiare l’ordine delle cose di Bolzano, Human Rights International, Legacoopbund, oew, Operation Daywork Scioglilingua, SOS Bozen
Hier folgt der Brief im Wortlaut:
Sehr geehrter Herr Landeshauptmann, sehr verehrte Frau Landesrätin,
am 5. Oktober ist das Gesetzesdekret 113/18 in Kraft getreten, mit dem die Regierungsparteien u.a. die bestehenden Normen zum Internationalen Schutz, zur Immigration und zur öffentlichen Sicherheit neu regeln wollen. Wie Sie wissen, ist dieses Dekret höchst umstritten.
Die unterzeichnenden Organisationen bringen mit diesem Schreiben ihre Sorgen zum Ausdruck, die sich auch aus den Ereignissen der letzten Tage nährt, und fordern die lokale Politik dazu auf, auf nationaler Ebene verstärkt Stellung gegen das Dekret zu beziehen. Außerdem rufen sie die Autonome Provinz dazu auf, angemessene Maßnahmen zu entwickeln, sollte das Gesetzesdekret ab dem 4. Dezember 2018 unverändert zur Umsetzung kommen.
Unsere Sorge ist vor allem den folgenden Punkten des Dekrets geschuldet:
ABSCHAFFUNG DES HUMANITÄREN SCHUTZTITELS (D.l. 113/18, Titolo I, Capo I, Art. 1)
Neben zwei weiteren Schutztiteln sieht das italienische Asylrecht bisher auch den humanitären Schutz für geflüchtete Personen vor. Letzterer wird in unterschiedlicher Ausführung auch in anderen Staaten der EU vergeben. In Italien kommt er, wie sein Name besagt, Menschen zu, die es aus schwerwiegenden humanitären Gründen zu schützen gilt. Auf diese Weise gleicht der Gesetzgeber das Asylrecht auch mit den Ansprüchen ab, die sich aus der italienischen Verfassung, aus internationalem Recht und Konventionen wie der Menschenrechtserklärung ergeben.Gemäß den Zahlen des Innenministeriums wurden in Italien im Jahr 2017 41 Prozent aller Asylanträge anerkannt, 25 Prozent der Bescheide ging mit einem humanitären Schutztitel einher. Ihn erhielten 20.116 Personen.
Mit dem Gesetzesdekret 113/18 möchte die italienische Regierung nun den humanitären Schutz abschaffen bzw. durch die wesentlich restriktivere Aufnahme von „speziellen Fällen“ ersetzen.
Hieraus ergeben sich die folgende Konsequenzen:
Da die „speziellen Fälle“ nicht alle Motive berücksichtigen, aus denen bisher ein humanitärer Schutztitel vergeben wurde, wird die Zahl der abgelehnten Asylanträge in Zukunft steigen. Hinzu kommt, dass bereits vergebene humanitäre Schutztitel mit ihrem Ablauf und der erneuten Überprüfung des jeweiligen Falls, entweder in „spezielle Fälle“ umgewandelt oder keine Verlängerung finden werden.Die Nichtvergabe oder Nichtverlängerung eines Schutztitels hat zur Folge, dass die betroffenen Personen ihre Aufenthaltserlaubnis in Italien verlieren und sich somit illegal auf dem Staatsgebiet aufhalten. Abschiebungen, so hat sich gezeigt, sind nicht im entsprechenden Ausmaß und zeitnah zu realisieren, auch weil hierfür bilaterale Abkommen mit den jeweiligen Herkunftsländern der geflüchteten Personen vonnöten wären.
Die Stadt Bozen befürchtet, dass 230 bis 260 der 492 Personen, die hier derzeit in einer Asylunterkunft untergebracht sind, aus diesen Gründen in absehbarer Zeit obdachlos werden (in geringerem Maß gilt dies auch für die anderen Orte, an denen in Südtirol Geflüchtete untergebracht sind). Die Südtiroler Caritas, die seit Jahren in der Aufnahme von Geflüchteten tätig ist, spricht entsprechend von „Unsichtbaren“, die dazu gezwungen sein werden, auf der Straße zu leben. ii
Die Autonome Provinz Südtirol hat in den letzten Monaten, auch stellvertretend für die Konferenz der Regionen und Autonomen Provinzen des Landes, den italienischen Innenminister auf diese Zusammenhänge hingewiesen.
Da allerdings unklar bleibt, inwiefern ihre Stellungnahme ein Umdenken beim Gesetzgeber bewirkt, sollte sie sich unverzüglich auf die Konsequenzen des Dekrets einstellen. Dabei sollte der Landeshauptstadt Bozen besondere Beachtung geschenkt werden. Bereits zum jetzigen Zeitpunkt findet hier eine Vielzahl von Personen keine Aufnahme in den Asylunterkünften. Hinzu kommen Personen, die zwar über gültige Schutztitel verfügen, sich aber schwer tun, Arbeit und Wohnraum zu finden. Die Neueinrichtung einer Notschlafstätte in der Ludwig-von-Comini-Straße kann für den bevorstehenden Anstieg von Obdachlosigkeit keine ausreichende Lösung darstellen.
ÄNDERUNG DES AUFNAHMESYSTEMS (D.l. 113/18, Titolo I, Capo II, Art. 12)
Nachdem sich ein Großteil der Südtiroler Gemeinden dem nationalen SPRAR-Aufnahmesystem angeschlossen und die dazugehörigen Wohneinheiten bereitgestellt haben, soll diese Form der Aufnahme durch besagte Gesetzesänderung stark beschnitten werden. So werden Asylsuchende in der Zeit der Antragsstellung ebenso von dieser Aufnahmeform ausgeschlossen wie Personen, denen aus bestimmten Gründen der humanitäre Schutztitel zuteilwurde und der Großteil der Personen, die zu den „speziellen Fällen“ zählen werden.Derzeit ist ein Asylantrag in der Regel mit einer Bearbeitungszeit von anderthalb bis zwei Jahren verbunden. Gemäß des Dekrets würden alle Antragssteller*innen bis zu ihrem finalen Bescheid in einer i.d.R. größeren Unterkunft (CARA oder CAS) verweilen. Dies widerspricht dem heutigen Aufnahmesystem, in dem etwa die CAS, wie bereits ihre Bezeichnung „Centri di Accoglienza Straordinaria“ besagt, eine Ausnahme darstellen sollten.
Die Neuregelung des Aufnahmesystems führt zu den folgenden Konsequenzen:
1. Das SPRAR-Projekt ist europaweit ein Vorzeigemodell in der Aufnahme von Geflüchteten. Sein Erfolg besteht darin, dass es auf die individuellen Bedürfnisse von geflüchteten Personen eingeht und ihnen die Integration in den jeweiligen gesellschaftlichen Kontext erleichtert. Hierfür ist entscheidend, dass Integrationsprozesse so früh wie möglich nach der Einreise einer Person einsetzen.Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass die Einschränkung des SPRAR-Projekts, wie auch Mario Morcone, Direktor des Italian Refugee Councils (CIR), befürchtet, zu neuen Formen von Marginalität und sozialem Ausschluss führt.
Verstärkt wird dieses Phänomen durch Einsparungen, die die Unterbringungen direkt betreffen. So sollen ihre Beiträge deutlich reduziert werden. Dies geht mit der Politik einher, dass Integrationsmaßnahmen ausschließlich Personen, die den internationalen Schutztitel erhalten haben, zuteilwerden sollen.
2. Das SPRAR-Projekt hat weiter zum Vorteil, dass es Asylsuchende anhand eines Aufnahmeschlüssels über die Gemeinden verteilt. Seine Einschränkung ruft nun ein Szenario wieder wach, in dem ein Großteil der Asylsuchenden auf die Südtiroler Städte und vor allem die Landeshauptstadt Bozen konzentriert waren. (Noch Mitte 2017 waren knapp 60% aller Südtiroler Asylsuchenden in der Landeshauptstadt untergebracht.)
Die unterzeichnenden Parteien stellen fest, dass die Aufnahme von Geflüchteten mit einer doppelten Verantwortung einhergeht. Sie gilt den schutzsuchenden Personen und der Aufnahmegesellschaft zugleich. Sie halten es für äußerst fragwürdig, dass das Gesetzesdekret seinem angeblichen Anliegen gerecht wird und tatsächlich „Sicherheit“ bewirkt. Denn ein nachhaltig wirkender gesellschaftlicher Frieden ist ihrer Meinung nach nur durch Integration zu erreichen.
Aus der Integrationsvereinbarung des Landes Südtirol ergibt sich, dass „gelingende Integration eine Voraussetzung dafür ist, dass in einer zunehmend vielfältigeren Gesellschaft das friedliche Zusammenleben gesichert bleibt“.
Und im Gespräch mit dem amtierenden Innenminister setzten Sie, Herr Landeshauptmann, auf das SPRAR-Projekt als geeignetes Mittel zur Integration. Aus diesen Gründen erhoffen sich die unterzeichnenden Organisationen, dass die Landesregierung den Schwierigkeiten im Bereich der Aufnahme begegnen wird, vor die sie das neue Gesetz, besonders bei der Verteilung und Integration von Asylsuchenden und Inhaber*innen aller Schutztitel, stellt.
Abschließend sei darauf verwiesen, dass
– die Vereinten Nationen im November 2018 beanstandet haben, dass Gesetzesänderungen und ein Klima, das von Hass geprägt ist, die Rechte von Migrant*innen in Italien bedrohen
– der Generalsekretär der italienischen Bischofskonferenz (CEI) darauf verweist, dass das Gesetzesdekret keineswegs den Dienst an der Person zum Ziel hat.
– die Vereinigung der italienischen Gemeinden (ANCI) davon ausgeht, dass das Gesetzesdekret allein für die Betreuung von besonders verwundbaren Personen im Bereich der Sozial- und Gesundheitsdienste zu jährlichen Mehrkosten von circa 280 Mio. Euro für die Gemeinden führen wird.
– der Oberste Richterrat (CSM) bekannt gegeben hat, dass das Gesetzesdekret in Hinblick auf Migrant*innen und Asylsuchende in vielen Punkten nicht verfassungskonform ist.
– das am 26.11.2018 in Rom verschiedene Vereine und Gewerkschaften (Libera, Acli, ANPI, Arci, Avviso Pubblico, Legambiente, Cgil, Cisl, Uil) gegen das Gesetzesdekret demonstriert und dabei u.a. darauf verwiesen haben, dass es Ausbeutungsverhältnisse und Illegalität in der Arbeitswelt steigern wird.
– der Verein für Studien im Bereich des Immigrationsrechts (ASGI) durch den rigorosen Bruch, den das Dekret mit den Prinzipien der italienischen Verfassung darstellt, allarmiert ist und alle zuständigen Institutionen dazu auffordert, eine ernsthafte Debatte in Bezug auf die notwendigen Reformen im Immigrationsrecht zu beginnen
– sich bereits die Städte Turin, Florenz, Palermo, Bologna und Meran aus Furcht vor seinen negativen Folgen gegen die Umsetzung des Dekrets entschieden haben.
Die unterzeichnenden Organisationen teilen die genannten Befürchtungen und unterstützen eine vorausschauende und nachhaltig wirksame Politik des Zusammenlebens. Deshalb rufen sie die Politik – noch bevor die negativen Auswirkungen des Gesetzesdekrets, wenn es auch in seiner Ausführung noch Änderungen erfahren kann, eintreten – dazu auf.
1. ihren Einfluss auf den nationalen Gesetzgeber zu verstärken und somit die benannten Konsequenzen des Dekrets für die betroffenen Personen und Gemeinden zu verhindern,
2. die Entwicklung und Kommunikation von Strategien zur Verteilung und Integration von Asylsuchenden und von Inhaber*innen aller Schutztitel in die Südtiroler Gesellschaft schnellstmöglich aufzunehmen und somit den Erschwernissen zu entgegnen, die das Dekret im Bereich der Integrationspolitik mit sich bringt,
3. schnellstmöglich Strategien zum Umgang mit einer vermehrten Anzahl an Obdachlosen, die sich in Zukunft auch illegal auf dem Staatsgebiet aufhalten könnten, zu entwickeln und zu kommunizieren.