Tausende Karabach-Armenier aus Krisenregion herausgebracht

Aserbaidschan strebt Machtübernahme in Berg-Karabach an

Donnerstag, 21. September 2023 | 16:01 Uhr

Nach den jüngsten Kämpfen um die Region Berg-Karabach im Südkaukasus haben die aserbaidschanischen Sieger und die unterlegenen Armenier eine erste Verhandlungsrunde beendet. In der Stadt Yevlax seien unter anderem “Fragen der Wiedereingliederung der armenischen Bevölkerung Karabachs” besprochen worden, teilte die Präsidialverwaltung des autoritär geführten Aserbaidschans am Donnerstag mit. In Kürze solle es ein weiteres Treffen geben.

Bei den Gesprächen über die Zukunft der Kaukasus-Krisenregion Berg-Karabach haben die Konfliktparteien noch keine endgültige Vereinbarung erzielen können. So habe seine Seite zwar einer Feuerpause mit Aserbaidschan zugestimmt, sagte David Babajan, ein Berater der selbsternannten Regierung von Berg-Karabach. Ungeklärt sei aber die Umsetzung der damit verbundenen Forderung Aserbaidschans, wonach die in Berg-Karabach lebenden ethnischen Armenier auch ihre Waffen abgeben sollen.

Erst seien Sicherheitsgarantien nötig, forderte Babajan gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters am Donnerstag..”Sie könnten uns jederzeit zerstören, einen Völkermord an uns verüben – verstehen Sie das, Reuters? Der Westen schweigt, Russland schweigt, Armenien schweigt. Was sollen wir tun?”

Aserbaidschan hatte die zwar auf seinem Staatsgebiet gelegene, aber mehrheitlich von Armeniern bewohnte Region Berg-Karabach seit Dienstagmorgen mit Raketen und Artillerie angegriffen, um sie zu erobern. Am Mittwoch gaben die militärisch unterlegenen Armenier auf. Viele von ihnen befürchten nun, aus ihrer Heimat vertrieben oder – wenn sie bleiben – zum Ziel aserbaidschanischer Gewalt zu werden. Durch die Kämpfe der vergangenen Tage wurden laut armenischen Medien mindestens 200 Menschen getötet und mehr als 400 verletzt.

An den Verhandlungen zwischen den beiden seit langem verfeindeten Ex-Sowjetrepubliken nahmen auch russische Soldaten teil, die in der Region stationiert sind und eigentlich eine 2020 vereinbarte Waffenruhe überwachen sollten. Viele Armenier werfen ihrer traditionellen Schutzmacht Russland, die ihre Kräfte derzeit vor allem für ihren eigenen Angriffskrieg gegen die Ukraine braucht, vor, sie nun angesichts der jüngsten aserbaidschanischen Aggression im Stich gelassen zu haben.

Kremlsprecher Dmitri Peskow teilte mit, es sei noch nicht abzusehen, wann ein Friedensvertrag zwischen Armenien und Aserbaidschan unterschrieben werden könne. Er sprach aber von “erheblichen Fortschritten” bei den Verhandlungen. Zugleich seien aber derzeit noch keine Gespräche zu einer möglichen Auflösung der aserbaidschanischen Blockade der einzigen armenischen Zufahrtsstraße nach Berg-Karabach geplant.

Diese Straße, der Latschin-Korridor, wird bereits seit Monaten von Aserbaidschanern abgeriegelt, weshalb die humanitäre Lage in Berg-Karabach schon vor Beginn der jüngsten Angriffe als katastrophal galt. Bei den Verhandlungen in Yevlax sicherte die aserbaidschanische Seite nun eigenen Angaben zufolge immerhin zu, dringend benötigten Treibstoff in die Region zu liefern.

Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan warb für eine Befriedung des Konfliktes. “Frieden ist eine Umgebung ohne zwischenstaatliche und interethnische Konflikte”, sagte Paschinjan am Donnerstag in einer Rede an die Nation anlässlich des armenischen Unabhängigkeitstages. “Dieser Weg ist nicht einfach, aber wir müssen ihn gehen.” “Man muss den Frieden schätzen und darf Frieden nicht mit Waffenruhe und Waffenstillstand verwechseln”, sagte Paschinjan weiter.

Das Verteidigungsministerium im Moskau teilte mit, bisher rund 5.000 Karabach-Armenier aus besonders gefährlichen Orten der belagerten Region herausgebracht zu haben. Zuvor hatte auch der Menschenrechtsbeauftragte der international nicht anerkannten Republik Berg-Karabach (Arzach), Gegam Stepanjan, von der Evakuierung mehrerer Ortschaften gesprochen. Berg-Karabach liegt zwar auf aserbaidschanischem Staatsgebiet, wird aber mehrheitlich von Armeniern bewohnt. Die beiden verfeindeten Ex-Sowjetrepubliken kämpfen bereits seit Jahren um die Region. Am Dienstag startete das autoritär geführte Aserbaidschan dann eine neue Militäroperation zur Eroberung Berg-Karabachs, die nur einen Tag später mit der Aufgabe der Karabach-Armenier endete. Nun befürchten viele, aus ihrer Heimat vertrieben zu werden oder unter aserbaidschanische Herrschaft zu fallen.

Nach dem Militäreinsatz Aserbaidschans forderte der russische Präsident Wladimir Putin den aserbaidschanischen Staatschef Ilham Aliyev am Donnerstag auf, die Rechte der Armenier in der Kaukasus-Region Berg-Karabach zu respektieren. “Wladimir Putin hat betont, wie wichtig es ist, die Rechte und die Sicherheit der armenischen Bevölkerung von Karabach zu gewährleisten”, erklärte der Kreml zu einem Telefongespräch zwischen den beiden Staatschefs.

Aliyev entschuldigte sich den Kreml-Angaben zufolge für den Tod von russischen Soldaten am Vortag in Berg-Karabach. Der aserbaidschanische Präsident habe zudem “sein tiefes Beileid” angesichts des “tragischen Todes von Soldaten des russischen Friedenskontingent in Karabach am 20. September” ausgesprochen, erklärte der Kreml. Russland hat 2000 Soldaten in Berg-Karabach stationiert, die einen 2020 vermittelten Waffenstillstand überwachen sollten.

Russland gilt traditionell als Schutzmacht Armeniens und hatte eigentlich zugesichert, einen nach dem letzten Karabach-Krieg 2020 vereinbarten Waffenstillstand in der Region zu überwachen. Viele Armenier werfen Moskau nun vor, sie im Stich gelassen zu haben und seiner Rolle als Schutzmacht Armeniens nicht nachgekommen zu sein.

Sie kritisieren, dass russische Soldaten weder die monatelange Blockade der einzigen armenischen Zugangsstraße nach Berg-Karabach durch Aserbaidschaner verhinderten noch jetzt der aserbaidschanischen Armee entgegentraten. Proteste in Armeniens Hauptstadt Jerewan richteten sich deshalb auch gegen die russische Botschaft vor Ort.

Von: APA/dpa/Reuters/AFP