Das größte ukrainische AKW ist seit Jahren unter Kontrolle Russlands

Forscher fanden Schwachpunkt bei Saporischschja-Reaktortyp

Mittwoch, 03. Dezember 2025 | 05:01 Uhr

Von: apa

Reaktoren in Kernkraftwerken sind auf viele Eventualitäten, z.B. Erschütterungen durch Erdstöße, ausgerichtet – nicht aber auf mögliche Effekte eines direkten Beschusses in Kampfhandlungen. Die immer wieder auftretenden Gefechte um das AKW Saporischschja im Zuge des Angriffskrieges Russlands in der Ukraine haben die Problematik in den Fokus gerückt. Eine mögliche Schwachstelle in den dort verwendeten WWER-1000- bzw. VVER-1000-Reaktoren zeigen nun österreichische Forscher auf.

Im größten ukrainischen Atomkraftwerk sind sogenannte “VVER-1000/320 Reaktoren” russischer Bauart in Betrieb. Bald nach dem Beginn des Krieges geriet die Anlage mit ihren sechs Reaktoren in den Fokus von Kämpfen. 2022 wurde das rund 1.000 Kilometer von Österreichs Grenze entfernte AKW in der östlichen Ukraine von russischen Truppen besetzt. Seither hat auch die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO bzw. IAEA) bei aufflammenden Kampfhandlungen vor einem Atomunfall gewarnt.

Unbeabsichtigte Treffer und Blackouts

Der Leiter des Instituts für Sicherheits- und Risikowissenschaften der Universität für Bodenkultur (Boku) Wien, Nikolaus Müllner, beschäftigt sich schon seit Jahren intensiv auch mit der speziellen Situation rund um Saporischschja. “In Kooperation mit dem ABC-Abwehrzentrum des österreichischen Bundesheeres haben wir uns jetzt angesehen, mit welchen Waffen und welcher Munition die Kampftruppen in der Ukraine operieren und was dort zum Einsatz kommen könnte”, erklärte Müllner im Gespräch mit der APA zu der im Fachmagazin “Nuclear Engineering and Design” erschienenen Analyse.

Die Frage war, wo derartige Reaktoren vielleicht Schwachstellen haben, wenn sie direkt mit Geschossen verschiedenen Kalibers beschossen würden. Das ist nicht ganz abwegig: Während des Angriffs am 3. März 2022 wurde zwar unbeabsichtigt das Containment von Block 1 und das Umspannwerk von Block 6 getroffen, aber es waren in den vergangenen Jahren vor allem die wiederholten Unterbrechungen der externen Stromversorgung des Kraftwerks, die bereits diverse Probleme für den Betrieb verursacht haben.

Neue Risikoszenarien

Auf das Szenario “direkter Beschuss” sind AKWs in der Regel nicht ausgelegt, Naturkatastrophen, Flugzeugabstürze oder Terrorattacken sind in den Risikoabschätzungen aber sehr wohl berücksichtigt. Mit der aktuellen Arbeit hat man auch in Zusammenarbeit mit einem italienischen Ingenieurbüro nach Unfallsequenzen gesucht, die eigentlich ausgeschlossen werden, weil ihr Eintreten unter normalen Bedingungen höchst unwahrscheinlich ist. Durch Kampfhandlungen am Kraftwerksstandort könnten diese aber möglich werden, so der Risikoforscher.

Tatsächlich fand man eine Stelle bei WWER-1000/320 – ein übrigens recht weit verbreiteter Reaktortyp, der auch in einigen europäischen Ländern betrieben wird – an der “alle Frischdampf- und Speisewasserleitungen eng geführt werden – eine Eigenheit des Kraftwerks”, wie Müllner erklärte. Diese führen dem Reaktor kühles Wasser zu bzw. den heißen Dampf ab. Dieser Quasi-Flaschenhals mit u.a. wichtigen Absperr- und Sicherheitsventilen liegt eher ungünstig relativ knapp unter einem Dach.

Sechs Stunden bis zur Freisetzung von Radioaktivität

“Würden dort unabsichtlich – davon gehen wir immer aus – Artilleriegranaten einschlagen, könnten alle diese Leitungen auf einmal verloren gehen”, so der Wissenschafter. So ein Ereignis hat unter “normalen” Bedingungen eine astronomisch niedrige Eintrittswahrscheinlichkeit, sei aber unter Beschuss nicht komplett auszuschließen.

Die neue Arbeit sei eine der ersten, die solche Ereignisse mit in die Rechnung nimmt. Träte der ungünstigste Fall auf, könnte die ausfallende Kühlung in rund vier Stunden zu einem Verdampfen des Wassers im Reaktor und dann zur Überhitzung und Kernschmelze führen. Noch einmal rund zwei Stunden später würde der Druckbehälter, in dem der Reaktor liegt, aufreißen. Passiert das bei hohem Innendruck, würde in Folge auch das Containment versagen. “Nach sechs Stunden könnte es theoretisch zu einer Freisetzung radioaktiver Spaltprodukte kommen”, sagte Müllner. Würde das in Saporischschja passieren, wäre das in unseren Breiten zumindest nachweisbar, regional allerdings durchaus ein Problem “mit relevanten Mengen” an strahlendem Material.

Experte pocht auf Analyse solcher Bedrohungen

“Wofür wir mit dieser Publikation plädieren, ist, dass man sich so etwas systematisch anschauen sollte – auch in Bezug auf andere Reaktoren”, betonte Müllner: “Wenn man nämlich um solche Engstellen weiß, kann man auch etwas tun.” Im Fall von WWER-1000/320 können die Betreiber nämlich im Ernstfall einiges tun. Wird erkannt, dass die Leitungen unterbrochen sind, könnte die Betriebsmannschaft durch Ablassen des Drucks den Reaktor retten. Dann würden auch die Notkühlsysteme anspringen. Man könne die Leittechnik auch so verändern, dass im Fall des Falles der Druck automatisch abgelassen wird, so der Experte.

Mit der neuen Arbeit wolle man auch dazu anregen, weitere ähnliche Untersuchungen zu machen. “Es wäre auch sinnvoll, dass man die Auflagen für Reaktoren erweitert”, denn es ist viel effektiver, solche Problemstellen schon im Design zu vermeiden. Das gelte auch für Start-ups, die aktuell Konzepte für Klein-AKWs – sogenannte “Small Modular Reactors” (SMRs) – entwickeln und bewerben. Hier sei das Bewusstsein für Bedrohungen im Kriegsfall noch kaum präsent.

(S E R V I C E – https://doi.org/10.1016/j.nucengdes.2025.114604)

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