Militärkonvoi zieht in Richtung Kiew

„Furchtbare Situation“: Der Westen kann nur hilflos zusehen

Mittwoch, 02. März 2022 | 17:46 Uhr

Kiew – Satellitenbilder zeigen einen 64 Kilometer langen russischen Militärkonvoi, der nach Kiew unterwegs ist. Dass dieser aufgehalten werden kann, daran zweifeln Experten. Die westlichen Verbündeten der Ukraine sind völlig hilflos und können dem Kriegstreiben nur zusehen.

Ein Ende der Kampfhandlungen in der Ukraine scheint nicht in Sicht. Im Gegenteil: Militärexperte Thomas Wiegold rechnet damit, dass Russland den Druck auf sein Nachbarland noch weiter erhöhen wird. “Es gibt zunehmend Angriffe mit Raketenartillerie”, erklärt Wiegold im Interview mit ntv. Der Experte befürchtet, dass zunehmend zivile Infrastruktur als Ziel ins Visier genommen wird.

Wie aus der Luft zu erkennen ist, umfasst der Konvoi sowohl Versorgungs- und Tankfahrzeuge als auch Artillerie. “Der Konvoi bringt Nachschub an Großgerät, Treibstoff und an Munition, was eine ganz wesentliche Aufgabe in einem solchen Angriffskrieg ist”, erklärt Sven Bernhard Gareis, Politikwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Internationale Sicherheitspolitik im Interview mit ntv. Ihm zufolge markiert der Zug den Beginn der zweiten Angriffswelle des russischen Militärs.

Die russischen Streitkräfte seien zuerst auf starken Widerstand der Ukrainer gestoßen und hätten erhebliche Verluste erlitten. Sand im Getriebe seien auch logistische Mängel gewesen, die die Militäroperation ins Stocken gebracht hätten. Hinzu komme, dass viele russische Soldaten zunächst gar nicht gewusst hätten, dass sie in den Krieg geschickt werden. Viele hätten gedacht, sie übten Manöver an der Grenze. “Das gehört zum Wesen der russischen Militärführung, dass Leute nicht informiert werden. Sie werden als Material angesehen, auf das keine Rücksicht genommen wird”, so Gareis.

Doch wieso hält die Kolonne niemand auf, die gemächlich in Richtung Kiew zieht? Laut Gareis liegt das daran, dass es den russischen Streitkräften gelungen ist, die ukrainische Luftwaffe weitestgehend auszuschalten. Putins Armee kontrolliere inzwischen den Luftraum im Kriegsgebiet. Die Ukraine besitze zwar einige bewaffneter Drohnen, die bereits zum Einsatz kamen, aber diese würden nicht ausreichen.

Wenn der Westen oder Nachbarländer wie Polen eine Flugverbotszone oder Luftraumsperre über der Ukraine installieren würden, käme dies einem Kriegseintritt westlicher Staaten gleich. “Das wurde aus gutem Grund kategorisch ausgeschlossen”, betont Gareis. Russland hat also das Heft in der Hand, die Ukraine könne nur abwarten.

Sollten die Militärfahrzeuge aus dem Konvoi dann tatsächlich ins Zentrum der Hauptstadt vordringen, stünden der Ukraine moderne Panzerabwehrraketen zur Verfügung. Diese können laut Gareis sehr wirksam gegen russische Panzer eingesetzt werden. Die russische Seite müsse – auch seitens der Zivilbevölkerung – mit erheblichem Widerstand rechnen. Doch was genau Putin mit dem Konvoi vorhabe, darüber könne nur spekuliert werden. “Entweder kreist er Kiew ein, oder er greift die Stadt direkt an, oder er schaltet um auf einen Beschuss von außen durch Raketen und Artillerie”, so Gareis

Ein Kampf auf urbanem Gelände gereiche zum Vorteil für die Verteidiger, denn Panzer seien dort die “ungeeignetste Waffe überhaupt”, meint Gareis. Ein Häuserkampf, bei dem die Infanterie in die Stadt hereingehe, führe bei den Angreifern zu hohen Verlusten. “Meine Sorge ist aber, dass die russischen Streitkräfte den Ukrainern diesen Vorteil nicht geben, sondern durch Raketen- und Artilleriebeschuss mit großer Rücksichtslosigkeit gegen die Zivilbevölkerung vorgehen werden”, erklärt der Experte.

Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) erklärte im Gespräch mit ntv, es habe momentan den Anschein, dass Putin den Kampf eskalieren lassen wolle, nachdem sein unmittelbares Kriegsziel nicht erreicht habe. Putin wollte “eine politische Enthauptung der Ukraine, also ein Ersatz der Regierung durch eine Moskau-treue Regierung in Kiew”. Das ist ihm nicht gelungen.

Auch Gareis glaubt nicht daran, dass sich Putin auf einen Kompromiss einlassen wird. Die Bilder des Militärkonvois deuteten laut Kaim darauf hin, dass es zu einer Strategie wie etwa im syrischen Aleppo kommen könne: Dort wurden großflächig zivile Wohnbezirke bombardiert, um kritische Infrastruktur wie Wasser- und Stromleitungen zu zerstören. Außerdem soll die Zivilbevölkerung bewusst vertrieben werden, um dann diese Gebiete einzunehmen.

“Das ist einfach eine furchtbare Situation, in die die Ukraine unverschuldet geraten ist”, resümiert Gareis laut ntv. Putin habe freie Hand. “Die NATO wird ganz sicher nicht eingreifen.” Der ungestört weiterfahrende Konvoi sei dafür ein Symbol. Putin werde sein Ziel verfolgen, die Ukraine als Staat zu vernichten. Das Ganze finde mitten in Europa statt und der Westen stehe daneben und könne praktisch nichts tun, so Gareis.

Von: mk